Amnion 2: Verbotenes Wissen
nicht recht, was er tat, während er sie auf die Beine stellte und mit sich hinauszog, und nicht, wie die Anstrengung ihn in den Gelenken schmerzte, und ebensowenig, wohin zu sie führte. Weinen war alles, was sie noch konnte, und die Tränen wollten nicht versiegen.
Vector geleitete sie in die Kombüse, setzte sie am Tisch auf einen Stuhl und stellte ihr einen Becher dampfenden Kaffees hin.
»Nun trink schon«, sagte er. »Hab keine Bange, dir ’n Mund zu verbrennen. Verbrennungen heilen.«
Der Kaffeeduft wehte Morn ins Gesicht. Indem sie seine Aufforderung befolgte – oder dank eines Instinkts, den sie vergessen hatte –, unterdrückte sie ihr Schluchzen lange genug, um den Becher zu nehmen und zu trinken.
Der heiße Kaffee verbrühte ihr Zunge und Rachen. Für eine Sekunde durchzuckte Schmerz ihre Hilflosigkeit.
Zwischen ihrem ersten und dem zweiten Luftschnappen endete ihr Weinen. Das Z-Implantat erneuerte seinen Einfluß.
»So ist’s besser.« Vectors Stimme schien durch einen Schleier an ihr Gehör zu dringen, durch seine brummige Gutmütigkeit gedämpft, dumpf zu klingen. »Gleich kannst du wieder klar denken. Falls du nicht vorher einschläfst. Oder tot umfällst. So wie du mit dir selbst umgehst, kann’s dich echt das Leben kosten. Spielst du Karten?«
Morn antwortete nicht. Momentan beschäftigten sie ausschließlich die schwarze Hitze des Kaffees, das schmerzhafte Brennen in ihrem Mund.
»Ich weiß, daß jetzt wohl nicht der günstigste Augenblick für ’ne Unterhaltung ist«, räumte Vector auf seine freundliche Art ein, »aber ich möchte mit dir reden, solange du noch… noch ansprechbar bist. Du benimmst dich seit Wochen, als wärst du blind und taub. Jetzt ist vielleicht meine einzige Gelegenheit. Also, spielst du Karten?«
Die Rückkehr ihres Jammers machte Morn anfällig für die Ermattung. Benommen nickte sie. »Poker. Ein bißchen. An der Akademie hab ich manchmal mitgespielt. Gut war ich nie.«
Offenbar hatte sie etwas Ähnliches wie eine Einladung ausgesprochen. Vector nahm ebenfalls am Tisch Platz, schob seinen Becher vor sich zurecht. »Es ist interessant«, meinte er sachlich, »wie lange bisweilen Spiele dauern. Schach zum Beispiel. Und Poker… Was Poker betrifft, unsere Spezies pokert schon seit jeher. Und dann gibt’s noch Bridge. Ich habe ganze Spiele-Lexika gesehen, die Whist nicht mal erwähnen – daraus ist Bridge nämlich hervorgegangen –, aber als ich noch bei Intertech war, haben wir zeitweise tagelang Bridge gespielt. Orn war darin besonders gut. Bridge und Poker…«
Vector stieß ein Seufzen nostalgischer Wehmut aus. »Die einzige Zeit in unserem Leben, in der das Dasein unverfälscht bleibt, ist dann, wenn wir uns mit solchen Spielen abgeben. Das liegt daran, daß sie geschlossene Systeme verkörpern. Die Karten und die Regeln – und ihre ontologischen Implikationen – sind begrenzt. Aber natürlich ist Poker eigentlich kein Kartenspiel. Es ist ein Spiel wirklicher Menschen. Die Karten liefern bloß das Werkzeug, um den Opponenten auszuspielen. Kann sein, das ist der Grund, weshalb du nie gut gewesen bist. Bridge dagegen kommt der direkten Problemlösung viel näher, der Extrapolation verborgener, logischer Permutationen. Naturgemäß kann man nicht darüber hinwegsehen, wer die Gegenspieler sind, aber man gewinnt mehr dank des Verstands als durch Kühnheit. Du versuchst, dein Problem durch Schneid zu lösen, Morn. Du mußt aber deinen Verstand benutzen.«
Morn trank mehr Kaffee. Sie schwieg; sie hatte nichts zu sagen. Statt dessen beachtete sie ausschließlich den Schmerz in ihrer Kehle.
»Beim Bridge kennt man einen gewissen Grundsatz«, fügte Vector hinzu. »Wenn man an einer bestimmten Stelle eine bestimmte Karte braucht, unterstellt man, sie ist da. Wenn man eine besondere Verteilung der Karten haben muß, unterstellt man, daß sie existiert. Die übrige Strategie plant man, als könnte man dieser speziellen Annahme mit vollem Recht sicher sein. Natürlich klappt das nicht immer. Man kann sogar tagelang Karten spielen, ohne daß ’s sich einmal bezahlt macht. Aber darum geht’s nicht. Es verhält sich ja so, daß man bei einer falschen Annahme auf alle Fälle verliert. Diese Annahme ist allerdings das eine, das man unbedingt voraussetzen muß, um zu gewinnen, deshalb ist es erforderlich, sich voll auf sie zu verlassen. Ohne sie kann man nichts machen, als mit den Achseln zucken und zum nächsten Blatt übergehen.«
Morn schwebte innerlich in
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