Amnion 3: Ein dunkler, hungriger Gott erwacht
genauer anzuschauen. »Das geht mir alles viel zu schnell. Sie möchten, daß ich mich für Sie mit Holt Fasner und dem ganzen Konzil anlege, und Sie verlangen, daß ich sofort zusage. Ich bin ein alter Mann, Direktorin Donner. Für mich dauert eine Konzilssitzung zu lang, um ständig wachzubleiben. Manchmal schlafe ich während eines einzigen Satzes ein, sogar wenn ich selbst ihn spreche. Warum wollen Sie, daß gerade ich die Sache in die Wege leite? Weshalb suchen Sie sich nicht jemand anderes aus?«
Min spreizte die Hände. »Wer käme denn sonst in Frage?« Sie hielt seinem bleichen Blick stand. »Wem könnte man denn Ihre ›Glaubwürdigkeit‹ nachsagen? Vorsitzendem Len? Wahrscheinlich ist er ein rechtschaffener Mann – sicher bin ich nicht –, aber Auseinandersetzungen sind ihm zuwider. Müßte er ein Trennungsgesetz vorschlagen, würde er wohl als erstes einen Anhang anfügen, der das Inkrafttreten um fünf Jahre aufschiebt. Beantworten Sie die Frage, Kapitän Vertigus. An wen sonst sollte ich mich wenden? Aber antworten Sie mir jetzt.« Ihre Stimme klang nach wie vor reichlich unwirsch. »Mir wird die Zeit knapp. Ich muß« – ihr Blick streifte ein Chronometer – »in elf Minuten wieder im Shuttle zum VMKP-HQ sitzen.«
Mehrere Sekunden lang musterte Vertigus sie dermaßen durchdringend, als hätte er vor, ihr bis ins Gehirn zu blicken. Während er zögerte, ahnte Min, daß in diesem Moment mehr Dinge in der Schwebe hingen, als sie hätte aufzählen können; möglicherweise baumelte gegenwärtig die Zukunft der gesamten Menschheit am seidenen Faden.
Warum hatte Warden Dios sie geschickt? Weshalb hatte er bis jetzt gewartet. Was für ein Spiel trieb er?
War es wirklich vorstellbar, daß Holt Fasner im EKRK in einem Ringen um ein Trennungsgesetz unterlag?
»Anscheinend verhält es sich so, Direktorin Donner«, sagte Kapitän Vertigus zu guter Letzt leise, beinahe im Flüsterton, »daß es eigentlich belanglos ist, ob Sie die Wahrheit sprechen. Es ist unwichtig, ob Sie mich ausgesucht haben, weil Sie erwarten, daß ich Erfolg habe, oder damit rechnen, daß ich eine Schlappe erleide.« Beim Sprechen setzten sich in seiner matten Stimme Töne der Erregung durch, bis sie einen volleren Klang hatte, fast wie bei einem weit jüngeren Mann. »Um was Sie mich ersuchen, muß getan werden. Es hätte schon längst getan werden müssen. Und es kann tatsächlich der Fall sein, daß der Zeitpunkt so günstig wie nie ist. Mir gefällt der Gedanke, mir zur Abwechslung wieder einmal etwas Wichtiges vorzunehmen. Sollten Sie davon ausgehen, daß mir eine Pleite bevorsteht, werden Ihnen in den nächsten Tagen ganz schön die Nerven schlottern.«
Erleichterung verzog Mins Miene zu einem Lächeln, das von ganzem Herzen kam. »Es ist mir lieber, Sie schaffen es. Wenn Sie mir nicht trauen, können Sie mich ja später feuern.«
Mit freudigem Schwung erhob sie sich aus dem Sessel. Kapitän Vertigus konnte nichts schlimmeres zustoßen, als daß er sein Leben als politisch schwer gescheiterter Zeitgenosse beendete. Im Rückblick war erkennbar, daß der Drache sich an unterlegenen Gegnern nie rächte; er behielt alle Bösartigkeit erfolgreichen Gegenspielern vor. Und wurde das Trennungsgesetz verabschiedet, hatte Holt Fasner vielleicht keine Möglichkeiten mehr, um sich an jemandem zu rächen.
Und unterdessen mochte ein kleines politisches Abenteuer dem Kapitän ganz bekömmlich sein.
»Wann kehrt Ihr Personal zurück?« fragte Min, indem sie von neuem aufs Chronometer blickte.
Kapitän Vertigus stand auf, als hätten seine Beine kaum noch genug Kraft, um seinen Körper zu tragen. »Ihr Timing ist in mehr als einer Beziehung gut. Sie haben noch fünf Minuten.« Min machte sich daran, ihre Abwehrelektronika einzusammeln. »Ich sehe mal draußen nach«, sagte Vertigus.
Unbeholfen umrundete er seinen Schreibtisch und tappte zur Tür. Er verkrampfte die Hände, damit sie zu zittern aufhörten, und öffnete die Tür um einen Spaltbreit.
»Na verdammt«, stieß er unterdrückt hervor. Min entfuhr ein lautloses Stöhnen. »Wieso ist Marthe denn so früh wieder da?« Trotzdem entfernte Min zunächst eilends alle Elektronika und verstaute sie in ihren Taschen.
»Ja wer ist denn nun das?« äußerte Vertigus ebenso verhalten wie zuvor.
Min spürte ein Jucken in den Handflächen. Irgendein Neuigkeitenjäger? Jemand von der Wartung? Genau was sie jetzt brauchte. Gewohnheitsmäßig checkte sie das Versteck der Pistole. Dann huschte
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