Amnion 4: Chaos und Ordnung
Vorstellung, Nick könnte ihn verschonen, schloß sich um sein Herz wie die Kälte des Weltalls.
Nick wünschte, daß er passiv bliebe. Sib bot sich die Möglichkeit, einfach abzuwarten, während die Sturmvogel vorbeiflog. Das Leben zu bewahren; sich Sorus Chatelaine fernzuhalten. Falls die Posaune umkehrte, um ihn zu holen, wurde ihm endlich Barmherzigkeit zuteil. Es konnte so ausgehen. Wenn er es dazu kommen ließ.
Eine halbe Stunde verstrich. Oder mehr Zeit? Weniger? Sib wußte es nicht. Jedenfalls hatte er den Eindruck, daß der Todeskampf des Labors allmählich verebbte. Nach wie vor stach Licht durchs Chaos der Felsbrocken, als ob Schreie durchs Dunkel gellten, doch verlor das Geflacker nach und nach an Heftigkeit. Das Schwarzlabor war vernichtet, verglüht bis hinab auf die atomare Ebene und verstreut in die Leere. Mit dem Aufzehren des letzten Brennstoffs mußte auch das Leuchten erlöschen.
Seit einer Weile brabbelte Nick wieder vor sich hin. »Sie muß jeden Moment da sein«, wiederholte er ständig, als wüßte er nicht, daß Sib ihn hören konnte. »Jeden Moment. Zähl die Minuten, Drecksau. Du hast nur noch wenige.«
Sib achtete nicht auf sein Gefasel. Wo er sich befand – inmitten der ruhelosen Wirrnis des Asteroidenschwarms klein wie ein Atom –, vermochte er schlichtweg nicht zu glauben, daß die moralische Ordnung seines Lebens umgestoßen werden könnte.
Er erhaschte den ersten Blick auf das Raumschiff, als es schnurstracks aus dem Herzen der im Ausbrennen begriffenen Feuersbrunst des Schwarzlabors zu kommen schien: wie eine aus Gewalttat und Verwüstung geborene Schöpfung. Umwallt von Feuer, schob es sich aus der Dunkelheit hervor wie ein schwarzer Behemoth, degradierte Sib, Nick und den Asteroiden, an den sie sich klammerten, jeden Felsklotz der gesamten Umgebung zu Zwergen.
»Da!« stieß Nick in rauhem Flüstern hervor, als drohte ihm die Stimme, gepackt von Leidenschaften, die er nicht meistern konnte, in der Kehle zu ersticken.
Die Sturmvogel flog mit eingeschalteten Scheinwerfern, erforschte das benachbarte Vakuum: kein vernünftiger Kapitän navigierte durch einen Asteroidenschwarm, ohne für den Fall, daß ein inkorrektes Emissionsecho oder ein Sensorfehler zum Übersehen eines Hindernisses führte, die Scanningmessungen durch Video-Observation zu ergänzen. Wenige Augenblicke später erkannte Sib deutlich die Umrisse des Raumschiffs. Ungefähr eiförmig, bestückt mit Antennen, Rezeptoren, Trichterantennen sowie Geschützkuppeln, näherte es sich vollkommen lautlos, als schwämme es in Öl, schien rasch, obwohl es noch zwei oder drei Klicks entfernt war, den Sichtbereich der Helmscheibe auszufüllen.
Das Scheinwerferlicht erhellte die Narben früherer Gefechte und die Male neuer Beschädigungen. Eine Delle hatte den Bug verformt; eine zweite Beule mittschiffs sah von weitem wie ein Krater aus. Und weiter heckwärts war der Rumpf aufgerissen worden: geborstenes Metall säumte ein dunkles Loch. Einen Frachtraum, mutmaßte Sib.
Dort konnten sie den Weg ins Schiff finden. Ließen sich Innenschotts aufschneiden, konnten ein, zwei Lasergewehre dem Raumer durchaus einigen Schaden zufügen. Nicht genug, um ihn aufzuhalten; doch genügend, um ihn zu schwächen.
Sib schwitzte nicht mehr. Die Indikatoren des EA-Anzugs zeigten an, daß er in Dehydrationsgefahr schwebte.
Du bleibst, wo du bist, verflucht noch mal, und hältst dich mir aus dem Weg.
Noch immer wußte Sib keine Lösung. Jahrelang hatte er Nick nur gefürchtet und ihm stets gehorcht.
Nick kauerte an seinen Kompressionshaken. Sein Raumhelm ruckte hin und her, während er die Sturmvogel betrachtete, ihre Annäherung beobachtete; anschließend überprüfte er das schwere Lasergewehr auf Hundertprozentigkeit der Ladung.
»Mir das Gesicht zerschneiden, was?« murmelte er. »Komm her, du Wildsau. Noch ’n bißchen näher. Dann wirst du sehen, wie du dafür büßen mußt.«
Auch diesmal sprach er nicht mit Sib. Soweit Sib es feststellen konnte, mochte Nick seine Existenz völlig vergessen haben. »Jetzt ist’s Zeit zur Revanche.«
Kein Kilometer trennte das Raumschiff noch von dem Asteroiden, als Nick sich von seinen Kompressionshaken löste, sich mit einem Tritt abstieß und auf den riesigen Rumpf zuschwebte. Auf die Benutzung der Lenkdüsen verzichtete er; sie brauchte er nicht. Statt dessen sauste er wie ein Stein auf das große Raumfahrzeug zu.
Sib sah zu, das Herz voll mit einstigen Schreien. Trotz der Wärme im
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