Amok: Thriller (German Edition)
hin und her.
Ganz langsam schlich er den Flur entlang und lauschte dabei aufmerksam, ob sich im Treppenhaus irgendetwas rührte. Er war nur eine oder zwei Minuten in Georges Büro gewesen. Wenn die Besprechung unten schon beendet wäre, hätte er sie sicherlich herauskommen hören.
Die Geräusche kamen aus einem der unbenutzten Schlafzimmer. Er wartete einen Moment und empfand eine merkwürdige Entrüstung. Wer zum Teufel war das?
Nachdem er noch einmal tief Luft geholt hatte, machte er die Tür auf und spazierte ins Zimmer, als hätte er jedes Recht, dort zu sein. Und dann erstarrte er vor Schreck angesichts des Anblicks, der sich ihm bot.
Es war wie die Vision aus einem Alptraum: Eine abscheuliche, spindeldürre Kreatur richtete sich im Bett auf, mit Augen wie schwarze Knöpfe, tief eingesunken in einem ausgemergelten Schädel, und warf aufgebracht die knochigen Arme mit den klauenartigen Fingern in die Luft. Die grässlichen Augen fixierten ihn, und die Kreatur spie angewidert aus.
»Raus hier! Raus!«
Craig setzte sich neben sie und las den Eintrag selbst. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er sich zu Julia umdrehte.
»Er hat sie mit der Schrotflinte üben sehen.« Er seufzte auf. »Wäre er doch nur zur Polizei gegangen. Dann hätte das ganze Massaker verhindert werden können.«
Seine Bemerkung schockierte Julia. »Das ist nicht fair. Vater konnte nicht ahnen, was die beiden im Schilde führten.«
Craig besaß immerhin den Anstand, beschämt dreinzuschauen. »Du hast recht. Entschuldige.«
Er nahm ihr das Tagebuch ab und las den Eintrag erneut. Seine Miene wurde immer ernster. »Sieh dir das an. Er kam auf mich zu und beschuldigte mich, unbefugt ein Privatgrundstück zu betreten. «
»Es ist George Mathesons Land.«
»Genau. Dann hatten sie vielleicht seine Erlaubnis?«
»Vielleicht.«
» Mit einer extrem aggressiven Ausstrahlung «, zitierte Craig weiter. »Hört sich nach einer ziemlich treffenden Beschreibung von Vilner an.«
Julia nickte. In dem bedrückten Schweigen, das folgte, verschlang Craig sein Sandwich mit wenigen Bissen, die Stirn in nachdenkliche Falten gezogen. Julia griff nach dem Tagebuch und wappnete sich innerlich, ehe sie weiterlas – Tag um Tag, den ganzen November und bis in den Dezember hinein.
Schließlich kam sie zum letzten Eintrag, geschrieben am Tag vor dem Tod ihrer Eltern.
Wetter wieder mal scheußlich, und keine Besserung in Sicht. Ruhiger Tag zu Hause. Unser Mann in Havanna von Graham Greene angefangen – großartig! Countdown geschaut – zwei Wörter mit 6 Buchstaben geschafft. Lisa fühlt sich nicht gut. Sie meint, dass sie vielleicht eine Grippe bekommt. Mir geht‘s auch nicht gerade glänzend. Hoffe, dass wir beide bis Weihnachten wieder auf dem Damm sind.
Und das war alles. Die letzten Worte ihres Vaters. Julia klappte das Tagebuch zu und legte es hin. Sie spürte, dass ihr die Tränen in die Augen treten wollten, doch irgendetwas hielt sie zurück. Irgendetwas schwirrte in ihrem Hinterkopf herum – ein Gedanke, eine Frage; blitzte kurz auf und verschwand dann wieder.
Sie erinnerte sich an etwas, was sie nach der Tragödie in Erfahrung gebracht hatte: dass die Symptome einer Kohlenmonoxidvergiftung leicht mit denen einer Erkältung oder Grippe verwechselt werden konnten. Als ihr Vater diese Zeilen schrieb, hatte der Heizkessel schon nicht mehr richtig funktioniert. Und bei dem schlechten Wetter hatten sie die Fenster sicher geschlossen gehalten, wahrscheinlich auch die Zimmertüren. Wodurch sich die CO-Konzentration noch weiter erhöht hatte.
Wieder huschte ihr eine Frage durch den Kopf – aber diesmal bekam sie sie zu fassen.
Was, wenn der Heizkessel gar nicht defekt war?
Was, wenn jemand den Heizkessel manipuliert hatte?
Craig stellte seinen Teller ab und sah sie mit schreckgeweiteten Augen an. Vielleicht war es Telepathie, vielleicht auch Zufall. Wie auch immer – jedenfalls dachten sie beide gleichzeitig dasselbe.
»Wenn dein Vater sie gesehen hatte, glaubst du dann nicht …?«
Er konnte sich nicht recht überwinden, es laut auszusprechen, doch Julia konnte es.
»Er hat sie ermordet, nicht wahr? Er hat meine Eltern ermordet.«
Toby prallte entsetzt zurück. Die Kreatur fauchte ihn an. »Starr mich nicht an!«
Irgendwie kam ihm die Stimme bekannt vor. Er sah genauer hin – und begriff …
»Vanessa?«
»Was tust du hier?« Sie drehte sich von ihm weg, krallte nach der Decke und zog sie hoch, um ihren Körper zu bedecken.
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