Amok: Thriller (German Edition)
Augenschein nahmen. Der Schrank war geplündert worden, die Kleider von der Stange gerissen und in der Ecke auf einen Haufen geworfen. Der Inhalt von neun oder zehn Kartons lag verstreut im Zimmer umher; neben drei Dutzend Tagebüchern auch Rechnungen, Quittungen, Garantiescheine und Bedienungsanleitungen, alles angesammelt in einem halben Menschenleben.
Ein Hochglanzprospekt für eine Philips-Stereoanlage fiel Julia ins Auge. Sie erinnerte sich, wie sie als Kind die Plexiglasabdeckung des Plattenspielers zerbrochen hatte. Ihr Vater hatte schon an die Decke gehen wollen, als er gesehen hatte, wie untröstlich Julia war. Er versuchte, ihr weiszumachen, dass es nicht so schlimm sei und dass der Plattenspieler ohne Deckel noch genauso gut laufen würde, aber sie war sensibel genug, um zu merken, dass er sich fürchterlich ärgerte, und ihr war bewusst, dass ihr Bruder wohl nicht so glimpflich davongekommen wäre.
Jetzt schniefte sie, wischte sich die Nase und sagte: »Legen wir los.«
Sie brachten ein paar Minuten damit zu, das gröbste Chaos zu beseitigen und die diversen Papiere zu Stapeln zu ordnen. Vieles davon war offenbar nicht angerührt worden, aber manche Tagebücher waren aufgeschlagen und dann achtlos zur Seite geworfen worden. Julia hockte sich im Schneidersitz auf den Boden und nahm sich ein paar Bände vor. Craig folgte ihrem Beispiel und setzte sich mit dem Rücken zum Bett. Eine Weile lasen sie in einträchtigem Schweigen, und bis auf das leise Rascheln des Papiers war nichts zu hören. Julia kam der Gedanke, dass es ihr unter anderen Umständen unangenehm gewesen wäre, jemandem, der nicht zur Familie gehörte, Einblick in so persönliche Dokumente zu gewähren.
Craig wurde als Erster unruhig. »Was genau hast du zu George gesagt?«
Julia starrte die Wand an, und ihr Blick wurde leer, als sie an den vergangenen Morgen zurückdachte. »Dass ich Vaters Tagebuch gelesen und entdeckt habe, dass Carl letzten Sommer bei ihm im Garten gearbeitet hat.«
»Und weiter?«
»Das war eigentlich alles. Wir haben über Carl gesprochen, über die Tatsache, dass niemand seine Tat hätte vorhersehen können.«
»Hat er irgendwelche Fragen gestellt? Irgendetwas zu den Tagebüchern?«
»Nein. Er schien sich nicht besonders dafür zu interessieren.«
»Es könnte also ein bloßer Zufall sein?«
»Ich glaube nicht an Zufälle. Nicht mehr.«
»Nein. Ich auch nicht.« Er blätterte eine Seite um, dann seufzte er. »Wirklich fesselnde Lektüre, nicht wahr?«
Sie wäre sich illoyal vorgekommen, wenn sie ihm beigepflichtet hätte, aber sie musste unwillkürlich lächeln. »Vater wollte seine Erinnerungen im Selbstverlag herausbringen, aber Mutter hat es ihm ausgeredet. Sie meinte, das würde zu teuer kommen.«
»Er hätte das Ganze als Blog ins Internet stellen sollen. Die Verlage hätten ihm die Tür eingerannt.«
Wieder waren sie ein paar Minuten still. Dann klappte Craig das Tagebuch zu und warf es auf den Haufen. »Augenblick mal. Wo ist eigentlich das eine, das du am Mittwoch dabeihattest?«
Sie blickte zu ihm auf. »In meiner Wohnung.«
»Das ist das, in dem Carl erwähnt wird?«
»Ja.«
»Und sonst steht da nichts von Bedeutung drin?«
»Ich habe nur bis August gelesen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin ja so blöd.«
»Wir wussten doch bis vor einer halben Stunde nicht, dass es wichtig sein könnte.« Er stand auf. »Komm. Die hier nehmen wir einfach mit.«
Vilner marschierte zielstrebig in den Salon, in dem sie sich vor zwei Tagen Julias Trents Geschichte angehört hatten. George blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
»Ich war bei Toby«, sagte Vilner. Er entschied sich für einen filigranen Queen-Anne-Stuhl, der unter seinem muskulösen Körper schier zusammenzubrechen schien. Seine Haltung – lässig zurückgelehnt, die Beine gespreizt – strahlte Macht und Überlegenheit aus; eine Taktik, die George selbst viele Male eingesetzt hatte.
»Ich weiß. Er sagt, Sie hätten ihm gedroht.«
»Ich habe ihn nur gewarnt, er soll nicht versuchen, mich zu linken«, antwortete Vilner unverblümt. »Und Ihnen erteile ich die gleiche Warnung.«
George nahm die Bemerkung mit – wie er hoffte – unbewegter Miene auf. »Und deswegen sind Sie hier?«
»Das ist ein Grund.« Er machte eine Kunstpause. »Dieses Angebot, das Sie mir gemacht haben, mit dem Sie sich mein Schweigen erkaufen wollten – nun, ich habe mit Kendrick gesprochen, aber ich habe ihm nicht alles gesagt. Ich wollte ein
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