Amok: Thriller (German Edition)
Ihre Haut war dünn und vergilbt wie Pergament, nur ihre Augen bewahrten noch etwas von der Frau, die er gekannt hatte.
»Was ist mit dir passiert?«
Sie wand sich unter ihrer Decke und knurrte: »Was glaubst du denn?«
Sie stirbt , dachte er. Es war eine verblüffende Erkenntnis, und in diesem Augenblick konnte er nicht sagen, welche Gefühle sie in ihm auslöste. Seit vielen Jahren war ihr Verhältnis von allenfalls höflicher Distanziertheit geprägt, doch hatte es eine Zeit gegeben, kurz nach dem frühen Drogentod seiner Mutter, als sie sich wesentlich näher gestanden hatten.
Damals war Vanessa eine attraktive Frau gewesen, auf ihre besondere Weise. Eine gertenschlanke, eisige Schönheit. Ihm drehte sich der Kopf, wenn er an den Moment zurückdachte, als aus ihrer reservierten Sympathie mehr geworden war. Er erinnerte sich an den sicheren Griff ihrer Finger, den Druck und Zug ihrer weichen, erfahrenen Lippen.
»Warum hast du nichts gesagt?«
»Das ist eine Privatangelegenheit.«
Er blickte sich rasch um und vergewisserte sich, dass der Lärm seinen Onkel nicht alarmiert hatte, um dann die Tür zu schließen und zu dem Stuhl zu gehen, der am Fußende des Betts stand. Er setzte sich und wartete geduldig, bis Vanessa die Decke wieder fallen ließ. In ihren Augen lag Schmerz, und auch in ihrer Stimme.
»Ich werde nicht mehr lange da sein. Das kannst du ruhig wissen.«
»Es tut mir leid.« Er war sich nicht sicher, ob das stimmte, fand aber, er sollte es dennoch sagen.
Seine Tante wirkte gereizt. Sie versuchte ihre Lippen mit der Zunge zu befeuchten und streckte dann die Hand nach dem Wasserglas auf ihrem Nachttisch aus. Er reichte es ihr, und als sie es aus seiner Hand nahm, streiften ihre Finger die seinen. Ihre Haut war trocken und schuppig.
»Vilner ist hier«, sagte sie.
»Ich weiß. Ich bin raufgekommen, um ihm aus dem Weg zu gehen.«
Sie nippte an dem Wasser. Danach hatte ihre Stimme wieder etwas von ihrer alten Kraft. »Weißt du, warum er hier ist?«
»Um einen Deal auszuhandeln, hoffe ich.« Er erzählte ihr von seinem Gespräch mit George. Ihre Lippen formten sich zu einem sarkastischen Lächeln.
»Ihr könnt euch nicht mehr freikaufen«, sagte sie. »Vilner hat Blut geleckt. Ich wette, er spielt beide Seiten gegeneinander aus.«
Sie nahm noch einen Schluck Wasser; das Glas zitterte in ihrer Hand. Was sie sagte, ergab nicht viel Sinn, und er fragte sich, wie weit ihr Verstand möglicherweise schon getrübt war. Wahrscheinlich war sie mit Morphium vollgepumpt. Aber er war interessiert genug, um sie fortfahren zu lassen. Besser, er hörte sie zunächst an und bildete sich anschließend sein Urteil.
Doch Vanessa schloss die Augen und schien ihn schon ganz vergessen zu haben. Er wartete eine ganz Weile, ehe er nachhakte: »Beide Seiten?«
Sie schlug die Augen auf, und in ihrem Blick schien Mitleid zu liegen. »Ach ja, natürlich«, sagte sie. »Du weißt ja noch gar nicht von Kendrick.«
Er runzelte die Stirn. Rückte näher ans Bett. Er spürte, wie sein Herz raste. Es war nicht nur ihr Blick; es war die Art, wie sie redete. Bedauernd und doch heimlich erregt, als ob sich ihr die Chance böte, zur Abwechslung einmal jemand anderem eine tödliche Diagnose zu stellen.
Er geriet ein wenig ins Stammeln, als er fragte: »Wer … Wer ist Kendrick?« Und dann musste er wieder eine Ewigkeit auf ihre Antwort warten.
»Kendrick kauft die Firma auf.«
Toby glaubte sich verhört zu haben. »Was hast du gesagt?«
»George verkauft alles«, sagte Vanessa. »Und du gehst bei dem Deal leer aus.«
57
Es war, als verlöre sie sie noch einmal. Julia fühlte sich leer, wie betäubt. Als sie sprach, war es ein Schock, ihre eigene Stimme zu hören. Sie klang wie die einer Wildfremden.
»Gehen wir zur Polizei?«
»Ich bezweifle, dass sie Beweise für ein Verbrechen finden würden.«
»Vielleicht würden sie wenigstens die Vorstellung eines zweiten Täters ernst nehmen.«
Craig sah auf seine Uhr. »Wir hätten den Einbruch sofort melden sollen. Und dann ist da das Problem mit Peggy Forester. Sobald wir zugeben, dass wir bei ihr waren, werden sie uns sehr genau unter die Lupe nehmen.«
Julia war immer noch gekränkt von Craigs Andeutung, dass ihr Vater das Massaker hätte verhindern können; jetzt verärgerte sie sein bevormundender Ton noch mehr.
»Vergiss nicht den Brand in der Pension«, sagte sie bissig. »Ganz zu schweigen von deinem Autounfall.«
Er runzelte die Stirn. »Worauf willst du
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