Amok: Thriller (German Edition)
und sie rechnete halb damit, dass ihr Vater sich im Bett aufrichten und sie ausschimpfen würde: »Schalt das verdammte Licht aus, Julia! Wir wollten eben einfach mal früh schlafen gehen, deine Mutter und ich.«
Aber er würde nichts dergleichen tun. Nicht an diesem Abend und auch an keinem anderen mehr. Sie waren tot. Und von einer Sekunde auf die andere hatte alles einen Sinn ergeben: die Gesichtsfarbe der beiden, die stickige Hitze, Julias leichte Kopfschmerzen und der Anflug von Übelkeit. Etwas, was man immer mal wieder in den Nachrichten hörte: eine furchtbare, aber im Grunde banale Tragödie, wie sie immer anderen Leuten passierte.
Bis sie einem selbst passierte.
Sie stürzte zum Fenster, riss es auf und lief hinunter in die Küche, wobei sie in ihrer Hast ein Bild von der Wand wischte. Der Heizkessel hing in der Ecke wie ein bösartiger Drache in seinem Käfig, der seinen tödlichen Atem im Haus verströmte. Sie schaltete ihn ab, schnappte sich das schnurlose Telefon ihrer Eltern und rannte hinaus in den Garten. Jetzt waren der Wind und der Regen wie eine Erlösung.
Sie wählte die 999 und erklärte mit zittriger Stimme, was passiert war. Der Mann von der Notrufzentrale ging mit ihr eine Liste von Fragen durch, so routiniert, dass Julia gar nicht anders konnte, als ruhig und ohne Panik zu antworten. Es war eine Form von Hypnose, wie ihr später klar wurde. Er sagte ihr, der Rettungswagen sei unterwegs, und fragte, wie sie sich fühle. Ob sie vielleicht eine Freundin oder eine Nachbarin bitten könne, mit ihr zusammen zu warten?
Sie murmelte etwas davon, dass sie nebenan klingeln würde, und beendete das Gespräch. Fast im gleichen Augenblick kam ihr die ganze Sache total unwirklich vor. Was, wenn sie sich alles nur eingebildet oder sich geirrt hatte? Sie würde ganz schön dumm dastehen. Es wäre doch sicher das Beste, noch einmal hineinzugehen und nachzuschauen?
Sie kam gerade einmal bis zur Tür, als eine lähmende Panik sie erfasste und keinen Schritt weitergehen ließ. Natürlich hatte sie sich das alles nicht eingebildet. Sie waren tot.
Sie dachte an Neil. Er würde erst in vier oder fünf Stunden hier sein. Aber es schnürte ihr schon jetzt die Kehle zu, wenn sie nur daran dachte, wie sie es ihm beibringen würde.
Dann klingelte das Telefon, und sie fuhr zusammen. Sie drückte die Verbindungstaste und rechnete damit, die Stimme des Mannes von der Notrufzentrale zu hören.
»Kann ich mit Jules sprechen?«, rief eine Stimme.
»Ich bin es selbst, Steve.«
»Ich konnte dich auf deinem Handy nicht erreichen.«
»Hier gibt es kein Netz«, sagte sie, und zum ersten Mal fiel ihr auf, wie unnatürlich ihre Stimme klang. Aber Steve schien nichts zu merken. Er hatte sich über ihre Befürchtungen lustig gemacht, hatte sich geweigert, sie zu begleiten, und war lieber Squash spielen gegangen. Es ist doch nicht zu übersehen, dass sie mich nicht leiden können , hatte er gesagt. Ich habe keine Lust, sie zu besuchen.
Na, das musst du jetzt auch nicht mehr, dachte sie. Nie mehr.
»Ich habe eine Ewigkeit gebraucht, bis ich die Nummer von deiner Mutter rausgefunden hatte«, fuhr er fort. »Wann bist du denn wieder zu Hause? Ich dachte, ich könnte vielleicht nach dem Pub noch vorbeischauen. Soll ich was zum Essen mitbringen, ein Fläschchen Wein vielleicht?«
»Nein, Steve, ich kann nicht.«
»Ach, komm schon! Wir könnten ein altes Ehepaar sein, so selten wie bei uns was läuft in letzter Zeit. Kann mich schon gar nicht mehr erinnern, wann wir zuletzt …« Sein Gegrummel verebbte, und sie sprach in das mürrische Schweigen hinein.
»Meine Eltern sind tot«, sagte sie. »Ich bin in ihrem Garten und warte auf die Polizei, da kannst du dir denken, dass ich heute Abend nicht in der rechten Stimmung bin. Genauer gesagt, wäre es mir am liebsten, wenn du dich verpisst. Tust du mir den Gefallen, Steve? Verpiss dich einfach, ja?«
Ihr Bewusstsein erfasste jetzt auch eine Ansammlung von Apparaten, die um ihr Bett herum aufgebaut waren. Ihr Körper war an Schläuche angeschlossen; Maschinen begleiteten mit Summen und Piepsen ihren allmählichen Heilungsprozess. Sie machten ihr ihren eigenen Herzschlag, ihre eigene Atmung unangenehm bewusst. Sie stellte fest, dass es wehtat, wenn sie einatmete. Überhaupt tat alles irgendwie weh, und es waren Schmerzen, die auf merkwürdige Weise zugleich intensiv und gedämpft waren.
Sie lag also im Krankenhaus. Aber nicht in der Psychiatrie. Sie heilte offenbar
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