Amok: Thriller (German Edition)
irgendeine Verletzung aus. Ein Unfall? Das schien plausibel. Sie hatte gerade ihre Eltern verloren, da hatte sie wohl nicht mehr klar denken können. Vielleicht war sie beim Autofahren einen Moment lang unkonzentriert gewesen.
Und dann ein entsetzlicher Gedanke: Hatte sie vielleicht versucht, sich das Leben zu nehmen?
Als Erstes waren Feuerwehrleute mit Atemschutzgeräten hineingegangen und hatten das Haus für sicher erklärt. Eine Polizistin geleitete Julia in die Küche und kochte dort erst einmal Tee. Kurz darauf kam eine andere Polizistin von oben zurück, nickte ihrer Kollegin mit ernster Miene zu und wandte sich an Julia. »Sie sind beide tot. Es tut mir sehr leid.«
Danach verschwammen die Ereignisse in ihrer Erinnerung. Julia konnte nicht sagen, wie lange sie in der Küche gesessen hatte, während alle möglichen Leute die Treppe hinauf- und hinuntergelaufen waren. Manche hatten sich ihr vorgestellt, andere nicht. Die meisten blieben ein paar Sekunden in der offenen Tür stehen und musterten sie mit professioneller Neugier, als wäre ihnen irgendeine dramatische Reaktion gerade recht gewesen. Ein Highlight, das ihnen von diesem Abend in Erinnerung bleiben würde.
Endlich hatte sie den Mut aufgebracht, ihren Bruder anzurufen. Sie hatte damit gerechnet, dass er eine Menge Fragen stellen würde, aber stattdessen nahm er die Nachricht in dumpfem, schockiertem Schweigen auf. Sie wartete noch immer auf den ersten verständlichen Satz, als seine Frau Donna den Hörer an sich nahm. Es war, als hätten sie es schon gewusst, erklärte sie Julia. Als hätten sie es schon den ganzen Tag gewusst.
Da nach einer solchen Nachricht an Schlaf ohnehin nicht zu denken war, baten sie Donnas Eltern, zu kommen und auf die Kinder aufzupassen. Dann packten sie einen Koffer und verließen Knutsford in den frühen Morgenstunden. Kurz nach Tagesanbruch standen sie bei Julia vor der Tür.
Der Anblick von Neil, wie er aus dem Wagen wankte – bleich, mit roten Augen, die Bewegungen unsicher -, machte ihr die Ungeheuerlichkeit ihres Verlusts erst richtig bewusst. Jetzt waren nur noch sie beide übrig, Bruder und Schwester. Waisen.
Jetzt waren Stimmen zu hören. Manchmal fern und irgendwie beruhigend, wie fließendes Wasser. Manchmal laut und aufdringlich. Ihre Sinne schienen auf grausame Weise geschärft bis an die Grenze des Erträglichen, drohten sie in jene andere Welt zurückzuwerfen. Die Welt, in der er darauf wartete, sein Werk zu vollenden, immer wieder und wieder.
Aber wer war er? Warum wollte er sie umbringen?
Wie auf Zehenspitzen bewegte sie sich weiter durch ihre Erinnerungen an die folgenden Tage. Die Obduktionen hatten bestätigt, dass Bernard und Lisa Trent an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben waren. Die Behörden ordneten eine Überprüfung der Heizanlage durch einen Techniker an, der zu dem Schluss kam, dass der Kessel schlecht gewartet war. Zudem war eine wichtige Lüftungsöffnung verstopft worden, möglicherweise, um zu verhindern, dass es zog. Julia war sich eigentlich sicher, dass ihre Eltern den Kessel regelmäßig hatten warten lassen, aber im Haus fanden sich keine Unterlagen, die das bestätigt hätten. Sie hatte sogar bei einigen Installateuren in der Umgebung nachgefragt, doch keiner konnte sich erinnern, an dem Kessel gearbeitet zu haben.
Die Opferschutzbeamtin erklärte, dass es eine gerichtliche Untersuchung der Todesursache geben würde. Das letzte Wort würde der Coroner haben, aber es würde wahrscheinlich auf Unfalltod oder unbekannte Todesursache entschieden werden. Die absolute Sinnlosigkeit des Ganzen war für Julia am schwersten zu ertragen. Der Gedanke, dass eine versäumte Routinewartung zwei Menschen das Leben gekostet hatte.
Eine Woche oder länger hüllte ein dumpfer Schmerz sie ein wie eine Nebelbank. Bei der Beerdigung war sie noch zu betäubt, um irgendetwas zu empfinden, und die verzögerte Reaktion ereilte sie zum ungünstigsten Zeitpunkt – just, als sie sich in Knutsford mit ihrem Bruder und dessen Familie zum Weihnachtsessen zu Tisch setzte. Wie die anderen Erwachsenen war sie entschlossen gewesen, sich den Kindern zuliebe um eine gewisse Normalität zu bemühen, doch dann wurde sie plötzlich von einem solchen Weinkrampf geschüttelt, dass am Ende sogar ihr vierjähriger Neffe zu dem Schluss kam, es sei unfein zu starren. Neil musste sie praktisch aus dem Zimmer tragen.
Der Anwalt hatte ihnen zu verstehen gegeben, dass es mit einer Entscheidung über das
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