Amok: Thriller (German Edition)
mir nicht vorstellen, dass er jetzt noch irgendetwas in der Richtung unternehmen wird«, meinte Abby.
»Wer weiß? Vielleicht hilft es ihm ja sogar.«
Sie starrte ihn an, krampfhaft bemüht, ihre Erregung zu verbergen. Craig bemerkte es; er wusste, dass er besser das Thema wechseln sollte. Aber er konnte nicht widerstehen.
»Vielleicht hat er ja jetzt endlich freie Bahn«, sagte er mit boshaftem Unterton. »Ist ja schließlich niemand mehr da, der sich ihm in den Weg stellen könnte, oder?«
18
Der Killer fuhr seinen Laptop hoch und öffnete zum zweiten Mal an diesem Abend den Internetbrowser. Es war fast Mitternacht. Im Fernsehen debattierte eine hochkarätig besetzte Talkrunde gerade über die möglichen Auswirkungen des Ereignisses, das inzwischen allenthalben als das »Massaker von Chilton« tituliert wurde.
Vor gut einer Stunde war er zum ersten Mal ins Internet gegangen und hatte sich in Hotmail eingeloggt. Der Benutzername und das Passwort waren ihm vor vier Monaten von jemandem zugeschickt worden, den er nur als Decipio kannte.
Im Entwurfsordner wartete eine neue Nachricht auf ihn. Er verharrte einige Sekunden mit dem Finger über der Maustaste. Dann holte er tief Luft und klickte die Nachricht an.
Sollte mich das etwa beeindrucken? Wenn überhaupt, hast du die Situation noch verschlimmert. Du hast dein wichtigstes Ziel verfehlt.
Sie ist immer noch am Leben.
Er hatte die Nachricht lange angestarrt – angewidert, wütend und vor allem verzweifelt. Er kam sich vor wie ein Marathonläufer, der glaubt, um die letzte Kurve vor dem Ziel zu biegen, und stattdessen eine brutal lange Strecke vor sich sieht, die sich bis zum Horizont zieht.
Schließlich löschte er die Nachricht und verfasste eine Antwort.
Ich weiß nicht, warum er meine Anweisungen missachtet hat. Er wusste genau, was er zu tun hatte, aber er ist durchgedreht. Ich habe ihn gestoppt, sobald ich konnte, und mich dabei selbst in große Gefahr gebracht.
Bist du sicher, was die Überlebende betrifft? Ich habe mich persönlich um sie gekümmert.
Er sicherte den Entwurf und meldete sich dann ab. Decipio hatte ihn angewiesen, die Formulierungen stets vage zu halten, aber das war eigentlich eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme. Indem sie auf einen gemeinsamen Account zugriffen und nur die Entwurfsfunktion benutzten, stellten sie sicher, dass die Nachrichten nie gesendet wurden und somit auch nicht von Dritten gelesen werden konnten. Es war die gleiche Methode, mit der die Täter vor den Terroranschlägen vom 7. Juli 2005 in London untereinander kommuniziert hatten.
Dann hatte er sich wieder dem Fernseher zugewandt und sich angehört, wie ein Parlamentsabgeordneter, der zu jedem Thema seinen Senf dazugab, behauptete, dass strengere Waffengesetze erforderlich seien. Ein hoher Kirchenmann wünschte sich mehr moralische Führung in der Gesellschaft, und eine Psychologin vertrat die Ansicht, dass es zu wenig Kontrollen und kaum Hilfsangebote für psychisch labile junge Männer gebe, die sich zu derartigen Gräueltaten getrieben fühlten. Der Vertreter der Regierung, ein Staatssekretär aus dem Innenministerium, schien den Tränen nahe.
Der Killer stellte den Ton ab und ging wieder in Hotmail. Er las die neue Nachricht, die seine eigene im Entwurfsordner ersetzt hatte.
Ganz sicher. Du hast versagt.
Versuch es noch einmal. Und mach es diesmal richtig.
Keine Restrisiken.
Er starrte den Monitor an und fletschte die Zähne, erfüllt von dem Groll, den einfache Fußsoldaten zu allen Zeiten empfunden haben. Es war ja so leicht, von irgendeinem bequemen Schreibtischsessel aus Befehle zu erteilen – viel leichter, als diese Befehle vor Ort umzusetzen. Und wo blieb die Anerkennung für das, was er geleistet hatte?
Er war empört. Drauf und dran, den Gehorsam zu verweigern. Aber er wusste, dass er das nicht tun würde. Es stand zu viel auf dem Spiel. Es blieb ihm nichts anders übrig, als weiterzumachen.
Wie es in der Nachricht hieß – er würde es noch einmal versuchen müssen. Und diesmal darauf achten, dass sie auch wirklich tot war.
Keine Restrisiken.
19
In ihren Träumen starb sie jedes Mal.
In ihren Träumen wurde sie gejagt und gehetzt, eingeholt und schließlich getötet. Jedes Mal, wenn sie starb, fand sie sich aufs Neue von der Dunkelheit umfangen, ihren Verfolger im Nacken, und dann liefen die ganzen schrecklichen Ereignisse wieder von vorne ab. Die Träume spielten in einer anderen Welt, in der Ängste nicht rational
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