Amok: Thriller (German Edition)
innerlich zerfressen wie ein ausgebranntes Gebäude. Für die einfachsten Verrichtungen waren außerordentliche Willensanstrengungen erforderlich. Das hatte alles nichts mit Vanessa zu tun, ihrer Persönlichkeit, ihrer Lebensenergie.
Und doch – wenn der Körper irgendwann verfiel, würde er Vanessa, den Menschen, mitnehmen. Das fand sie unfair. Manchmal, in der Nacht, schrie sie ihre Wut über diese Ungerechtigkeit hinaus. Sie schrie, bis ihr die Tränen über die Wangen strömten, ihr Hals brannte und ihr Herz wild gegen die Rippen schlug.
Aber bei alldem gab sie nie einen Laut von sich. George durfte nicht wissen, wie sie sich fühlte.
Nach außen war sie weiterhin stoisch, gefasst, ja tapfer. »Du bist so tapfer «, hatten ihre Freunde immer gesagt, noch bis vor wenigen Monaten. Bis sie aufgehört hatte, sich mit ihnen zu treffen.
George selbst wagte es nicht, dieses Wort in den Mund zu nehmen. Aber er sprach ja sowieso kaum mit ihr.
Die Tür seines Arbeitszimmers war schwer, und sie brauchte beide Hände, um den antiken Porzellanknauf zu drehen.
George blickte auf, und seine Miene verriet ehrliche Überraschung. Er saß an seinem Schreibtisch und hatte den aufgeschlagenen Bericht vor sich liegen. Und noch etwas anderes, das er gerade rasch zwischen die Seiten geschoben hatte. Mit einem verstohlenen Blick vergewisserte er sich, dass es nicht mehr zu sehen war.
»Entschuldige«, sagte er. »Ich wollte eigentlich kommen und nach dir sehen.«
»Ich bin kein Krüppel.« Wie zum Beweis setzte sie sich nicht hin, sondern ging zum Kopierer und legte beide Hände auf den Deckel. Er war noch warm. Sie wandte sich zu George um, und er erbleichte, als könne sie in sein Innerstes blicken.
»Ich habe Toby erlaubt, sich eine Kopie von dem Bericht zu machen.«
»War das klug?«
»Ich habe ihm gesagt, er soll ihn vertraulich behandeln«
Der Gedanke entlockte Vanessa ein leises Lachen. »Und wie hat er reagiert?«
»Er hat es abgetan. Er überschlägt sich fast vor Eifer, einen neuen Bauantrag vorzubereiten.«
»Ich nehme an, du hast ihm noch nicht von Kendrick erzählt?«
»Nein.« Seine Augen verengten sich. »Findest du, dass ich das sollte?«
»Das ist deine Sache. Du kannst damit verfahren, wie du es für richtig hältst.«
George nickte langsam. »Aber?«
»Ich meine es so, wie ich es sage. Ich bin genauso enttäuscht von Toby wie du. Er sollte selbst sehen, wie er zurechtkommt.«
George beobachtete sie immer noch wartete immer noch auf eine boshafte Bemerkung, eine schneidende Erwiderung von ihr. Diese Sticheleien gehörten zu den beständigsten Elementen ihrer langen Ehe, und sie wusste, dass er nach all den Jahren eine geradezu masochistische Anhänglichkeit daran entwickelt hatte.
Er klappte den Bericht zu und tätschelte die Seiten mit dem kostbaren Dokument, das darin steckte – was immer es sein mochte.
»Ich habe ihm von Craig Walker erzählt. Er hat gefragt, ob ich ihn dabeihaben will.«
Vanessa neigte leicht den Kopf zum Zeichen, dass sie sein Amüsement teilte. »Du solltest eventuell darüber nachdenken, jemanden hinzuzuziehen. James Vilner vielleicht.«
George runzelte die Stirn. »Warum?«
»Walkers Vater wurde brutal ermordet, und was er der Presse gesagt hat, scheint darauf hinzudeuten, dass er dir die Schuld daran gibt. Sein Urteilsvermögen ist durch Trauer und Wut getrübt. Er wird das Bedürfnis haben, diese Wut irgendwie abzureagieren.«
George winkte ab. »Ich glaube kaum, dass er hierherkommt, um sich an mir zu vergreifen.«
»Vielleicht nicht. Aber Vilners Anwesenheit könnte viel mehr bewirken als jedes Anwaltsschreiben. Zu einem Bruchteil der Kosten.«
Sie hatte mit einer abschätzigen Reaktion von George gerechnet, doch stattdessen spitzte er die Lippen – eine unbewusste Angewohnheit, mit der er signalisierte, dass er erwog, sich die Idee eines anderen zu eigen zu machen.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte er.
Was so viel hieß wie Ja.
36
Kurz bevor sie die Pension erreichten, kamen sie an einer Lücke in den Dünen vorbei, die den Blick aufs Meer freigab. Die Flut hatte eingesetzt; das Wasser begann die tieferen Priele zu füllen und kam aus mehreren Richtungen zugleich über den flachen Sand herangehuscht. Julia dachte an Craigs Botschaft, überspült und für immer ausgelöscht.
»Wissen Sie, die Tatsache, dass er immer noch auf freiem Fuß ist, ist wahrscheinlich mit ein Grund, warum ich hierhergekommen bin«, sagte sie, als sie auf den Parkplatz
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