Amokspiel
die Verfolgerin hatte ich im Mittagsgewühl schon aus den Augen verloren. Doch ich kannte eine Abkürzung Richtung Stuttgarter Platz. Ich hoffte, dass Leoni zu ihrer Wohnung wollte und sich früher oder später unsere Wege kreuzen müssten.«
»Was sie dann auch taten.«
»Ja. Es war purer Zufall. Ich hatte die Suche eigentlich schon aufgegeben und setzte mich in ein Café in der besseren Hälfte vom Stuttgarter Platz.« Ira lächelte leicht.
Der »Stutti« war ein Berliner Phänomen. Nur wenige hundert Meter trennten eine familiengerechte Altbauwohngegend mit traumhaft schönen StraEencafés und Kinderspielplätzen von übelsten Billigbordells und Table-Dance-Kneipen. »Meine Mittagspause war schon überschritten, und der nächste Patient wartete längst. Also rief ich sie an. Und da traf mich fast der Schlag.«
»Was?«
»Genau vor mir, mit dem Rücken zu mir, ging eine mir völlig fremde, rothaarige Frau an ihr Telefon. Erst da registrierte ich, dass es direkt hier bei mir, nur einen Tisch weiter, im Café geklingelt hatte. Ich legte sofort auf. Die Fremde sah auf das Display und musste meine Nummer erkennen. Irgendetwas daran machte sie nervös. Sie legte hastig etwas Geld auf den Tisch und verließ das Lokal, ohne sich noch einmal umzudrehen. Dabei sah ich es dann natürlich.«
»Was?«, fragte Ira wieder, atemlos vor Spannung. »Dass sie eine Perücke trug. Deswegen hatte ich sie nicht schon beim Reinkommen erkannt. Leoni musste mich ebenfalls übersehen haben. Ich nahm also wieder die Verfolgung auf. Doch jetzt dauerte es nicht lange. Nur wenige hundert Meter weiter bog sie in die Friedbergstraße und eilte zu einem Mietshaus mit himmelblau verputzter Fassade.«
»Wo sie wohnte?«
»J a .«
»Ich werde nie ihre Augen vergessen, als sie die Tür öffnete. Wie kann man gleichzeitig Liebe, Überraschung und grenzenlose Furcht auf einmal ausdrücken?« Ira wusste, dass Jan keine Antwort erwartete, stattdessen fragte sie weiter: »Was hat sie gesagt?«
»Erst einmal nichts. Sie war zum Glück nicht wütend. Immerhin hatte ich mein Versprechen gebrochen, sie nie zu Hause zu besuchen. Darum war ich schon froh, dass Leoni mir nicht die Tür vor der Nase zuknallte. Stattdessen bat sie mich herein. Bevor ich auch nur ein Wort herausbekam, zog sie mich zu sich heran, umarmte mich und flüsterte: >Frag mich bitte nicht. Ich erzähle dir alles, irgendwann. Aber nicht hier. Nicht jetzt.<«
»Und das hat Ihnen ausgereicht?« Immerhin wollten Sie die Frau heiraten, fügte Ira in Gedanken hinzu. »Natürlich nicht. Aber ich hatte ja ihr Versprechen. Sie wollte mir alles irgendwann erzählen. Und sagte ich nicht vorhin, dass es gerade die Geheimnisse sind, die uns verbinden?«
»Sie sagten auch, dass ich etwas hören würde, was uns die Suche nach Leoni erleichtert.«
»Bevor ich wieder in meine Praxis zurückging, wusch ich mir im Bad die Hände. Leoni hatte ja keinen Besuch erwartet. Also hatte sie weder Veranlassung, ein frisches Handtuch hinzulegen, noch, ihr Ersatzhandy aus der Aufladestation über dem Waschbecken zu nehmen.«
»Sie checkten die SMS?«
»Ist das nicht ein Volkssport heutzutage? Natürlich las ich ihre Einträge, wie ein eifersüchtiger Ehemann auf der Suche nach Mitteilungen des Liebhabers.«
»Und?«
»Nichts.«
»Wie nichts?«
»Das Mobiltelefon war voll mit Daten. Aber es gab nichts, was ich lesen konnte. Ich verstand kein Wort. Die SMS waren alle in kyrillischen Buchstaben geschrieben.«
»Was soll das heißen?«
»Dass Sie, wenn es wirklich Leonis Handy war, nach einer Russin suchen müssen, Ira.«
25.
Es klingelte jetzt schon zum dritten Mal. Hier, bei den Schließfächern am Ostbahnhof, hallte es doppelt so laut wie normal. Faust sah auf das Display seines Handys, als ob von dem Mobiltelefon eine ansteckende Krankheit ausginge. Die Nummer!, dachte er und fasste sich nervös an seine Halsschlagader. Sie pochte sichtbar. Außerdem schmerzte ein vergrößerter Lymphknoten zwischen Kinn und Hals wie vor einer schweren Erkältung. Wie haben die es geschafft, an diese Nummer zu kommen ? Jetzt schon?
So viel Angst hatte der Oberstaatsanwalt zuletzt empfunden, als er in einer onkologischen Praxis nach der Krebsvorsorgeuntersuchung noch mal in das Sprechzimmer gebeten wurde.
Wie konnte der Plan nur so außer Kontrolle geraten? So kurz vor dem Ende?
Die Mailbox signalisierte den Eingang einer neuen Sprachnachricht, und Faust verspürte große Lust, das Handy an die gekachelte
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