Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
Elizabeth Taylor. Während Irene immer schick angezogen war, musste Monika angeblich in löcherigen Klamotten herumlaufen.
Irene wird auf ihr Versagen als Mutter reduziert – und auf ihre Eitelkeit, als hätte sie ihr halbes Leben im Bad mit ihren Schminktöpfchen verbracht.
Ich glaube nicht, dass Irene nur eitel und egoistisch war. Sie war eine attraktive und ungewöhnliche Frau. Sie hat sich keinen Versorger gesucht, wie es im Deutschland der Nachkriegszeit üblich war, sondern stand auf eigenen Füßen: Sie arbeitete als Sekretärin, lange Zeit im Goethe-Institut. Noch eine Gemeinsamkeit: Auch ich habe im Goethe-Institut gearbeitet, in Israel neben meinem Studium.
Für ihre Generation ungewöhnlich: Meine Großmutter sprach sehr gut Englisch, las die britische «Times». Ihre Wohnung war voller Bücher, Tucholsky, Böll, Brecht. Sie interessierte sich für Theater und Literatur. Angeblich hat sie die SPD gewählt und war eine Anhängerin Willy Brandts.
Für ihre Zeit war meine Großmutter tolerant: Sie teilte eine Zeitlang mit dem Transvestiten «Lulu» die Wohnung, zog mit ihm und seinen schwulen Freunden durch Schwabing. Meinen Vater hatte meine Mutter kennengelernt, weil ein Bekannter von ihm, ebenfalls Afrikaner, bei meiner Großmutter zur Untermiete lebte. In den sechziger und siebziger Jahren in München einen Schwarzen bei sich wohnen zu lassen, war nicht selbstverständlich. Sie war keine Rassistin.
Gern hätte ich alte Freunde meiner Großmutter zu ihr befragt. Aber ich kenne nur Berichte von Journalisten über sie – und die Einschätzungen meiner Mutter. Beide Quellen bezeugen fast nur Schlechtes. Meist kann ich mich auf mein Bauchgefühl verlassen, ich habe ein gutes Gespür für Menschen. Habe ich mich in meiner Großmutter wirklich so getäuscht?
Von meinen Adoptiveltern erhielt ich mit etwa siebzehn Jahren eine Postkarte meiner Großmutter. Sie hatten die Karte zurückgehalten, weil sie dachten, ich würde sonst zu sehr zwischen meiner alten und meiner neuen Familie hin- und hergerissen. Meine Großmutter hatte mir die Karte bereits zum siebten Geburtstag geschickt, zusammen mit einem Kinderbuch, das sie für mich ausgesucht hatte. Ich hätte diese Dinge gern schon früher bekommen. Es wäre hilfreich und wichtig für mich gewesen, schließlich waren es greifbare Gegenstände, Erinnerungen an meine leibliche Familie, die mit der Adoption plötzlich aus meinem Leben verschwunden war.
Die Karte meiner Großmutter zeigt ein Bild von Paula Modersohn-Becker: «Bauernmädchen mit verschränkten Armen». Ein ernst und stolz blickendes Mädchen ist darauf zu sehen, die Hände hat es vor dem Körper verschränkt. Es ist etwa so alt, wie ich damals war, als meine Großmutter die Karte schrieb. Irenes Schrift sieht aus wie gemalt. Meine Großmutter hat sich Mühe beim Schreiben gegeben, diese Sorgfalt ist typisch für ihre Generation. Sie schrieb: «Liebe Jennifer, einen wunderschönen Geburtstag wünsche ich Dir und noch 364 schöne Tage im neuen Jahr dazu! Liest Du gern? Ich hoffe es, dann macht Dir das Buch sicher Spaß. Ich denke sehr oft an Dich. Sag Deinen Eltern, daß ich sie sehr herzlich grüßen lasse! Deine Irene.» Die Karte ist nett und herzlich. Ich freue mich über das «Deine» vor Irene.
Paula Modersohn-Beckers Gemälde «Bauernmädchen mit verschränkten Armen». Diese Karte schickte Ruth Irene Göth ihrer Enkelin Jennifer zum siebten Geburtstag.
*
Jennifer Teeges Adoptivmutter Inge Sieber erinnert sich, dass Jennifer als kleines Kind eine Zeitlang gehofft habe, ihre Großmutter würde sie zu sich nehmen.
Einmal, noch vor der Adoption, habe Ruth Irene Göth Jennifer in ihrer neuen Familie besucht. Sie rief vorher an und fragte, ob sie vorbeikommen dürfe. Die Adoptiveltern luden sie zum Kaffee ein. Jennifers Adoptivmutter fand Ruth Irene Göth freundlich und aufmerksam. Sie habe einen langen Patchwork-Rock getragen und nicht ausgesehen wie eine Oma: «Sie hatte diesen lässigen Schick der Schwabinger Szene. Auffällig, extravagant, aber trotzdem nicht aufgesetzt. Ich war 25 Jahre jünger, aber neben ihr kam ich mir vor wie ein Hausmütterchen.» Ein paar Stunden habe Jennifers Großmutter auf der Couch gesessen, sie sei sehr interessiert an Jennifers neuer Familie gewesen und habe viel gefragt.
Ungefähr zur selben Zeit, Mitte der siebziger Jahre, besuchte der israelische Historiker Tom Segev Ruth Irene Göth in ihrer Schwabinger Wohnung.
Segev war damals noch kein
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