Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
sie sich ab.
«Davon habe ich nichts gewusst.» Diesen Satz hat Ruth Irene Kalder nach dem Krieg oft wiederholt. Es ist ein Satz, der die Jugend vieler Deutscher begleitet hat. Die Eltern oder die Großeltern behaupteten, nichts geahnt zu haben von der Ermordung unzähliger Menschen – und die Kinder und Enkel wussten nicht, ob sie ihnen glauben konnten, glauben durften.
Aber ihr müsst doch davon gewusst haben!?
Kann es sein, dass wirklich nichts bis zu den einfachen Leuten durchdrang?
2011 wurde erstmals das Tagebuch des Friedrich Kellner aus den Jahren 1939 bis 1945 veröffentlicht. Friedrich Kellner war zu jener Zeit ein einfacher Justizbeamter, er stammte aus kleinen Verhältnissen und lebte bis zu seinem Tod 1970 in der hessischen Provinz. Er hatte keinen Zugang zu Geheimakten, sondern schrieb nur zufällig Gehörtes, Informationen aus Gesprächen im Ort und vor allem aus den jedermann zugänglichen Zeitungen nieder. Sein Tagebuch belegt, was auch diejenigen, die «nichts wussten», wissen konnten über Diktatur, Krieg und Holocaust. 1941 schrieb Friedrich Kellner beispielsweise: «Die ‹Heil- und Pflegeanstalten› sind zu Mordzentralen geworden.» Er hatte beobachtet, dass auffällig viele Anzeigen über Todesfälle in Heil- und Pflegeanstalten in den Zeitungen erschienen. Außerdem war ihm der Fall eines Elternpaares zugetragen worden, das seinen psychisch kranken Sohn gerade noch rechtzeitig aus einer solchen Anstalt nach Hause geholt hatte. Zur selben Zeit, unmittelbar nach dem Überfall auf die Sowjetunion, erreichten Friedrich Kellner Nachrichten über Massenmorde an Juden: «Ein in Urlaub befindlicher Soldat berichtet als Augenzeuge fürchterliche Grausamkeiten in dem besetzten Gebiet in Polen. Er hat gesehen, wie nackte Juden u. Jüdinnen, die vor einem langen, tiefen Graben aufgestellt wurden, auf Befehl der SS von Ukrainern in den Hinterkopf geschossen wurden u. in den Graben fielen. Der Graben wurde dann zugeschaufelt. Aus den Gräben drangen oft noch Schreie!!» Im September 1942 wurden aus Kellners Heimatort Laubach zwei jüdische Familien deportiert, dazu heißt es in seinem Tagebuch: «In den letzten Tagen sind die Juden unseres Bezirks abtransportiert worden. Von hier waren es die Familien Strauß u. Heinemann. Von gut unterrichteter Seite hörte ich, daß sämtliche Juden nach Polen gebracht u. dort von SS -Formationen ermordet würden.»
Seit der Künstler Gunter Demnig im Jahre 1996 damit begann, in über 800 deutschen Städten und Dörfern «Stolpersteine» zu verlegen – kleine Gedenktafeln aus Messing vor den Häusern, aus denen die Nationalsozialisten Menschen abholten –, ist es augenfällig: In mancher Straße findet man vor jedem dritten Haus Namen, einzelne oder die ganzer Familien. In diesen Straßen kann es nicht zu übersehen gewesen sein, dass Nachbarn fehlten: die jüdische Familie, das Mädchen mit Down-Syndrom, der Homosexuelle, die Kommunistin.
Aber in vielen deutschen Familien wurden den Eltern und Großeltern nie kritische Fragen gestellt. «Die Nazis» – das waren die anderen. Es war so unvorstellbar, dass der freundliche Großvater an der Front Verbrechen begangen und die gutmütige Großmutter Hitler zugejubelt hatte. So unvorstellbar wie es lange Zeit für Jennifer Teege war, dass ihre Großmutter es sich am Rand eines Konzentrationslagers gutgehen ließ.
Nur bei wenigen wird die Lebenslüge, die Schizophrenie der eigenen Geschichtsschreibung so deutlich wie bei Ruth Irene Kalder. Sie war keine Täterin, aber Zuschauerin und Profiteurin. Amon Göth machte seine SS -Karriere, sie machte mit. Amon Göth bleibt einem fremd, von ihm kann man sich abgrenzen – aber in Ruth Irene Kalder, der verführten Opportunistin, kann man sich, zumindest ein Stück weit, wiedererkennen.
Als sie 1946 in der Wochenschau von der Hinrichtung Amon Göths erfuhr, soll Ruth Irene Kalder geschrien und getobt haben. Monika Göth erzählte, ihre Großmutter Agnes Kalder habe später behauptet, Ruth Irenes Haare seien danach plötzlich weiß gewesen, sie habe sie dann schwarz gefärbt.
Monika Göth berichtete auch, ihre Mutter habe später immer wieder den amerikanischen Spielfilm «Lasst mich leben» mit Susan Hayward in der Titelrolle angeschaut: Der Film ist ein engagiertes Plädoyer gegen die Todesstrafe, er zeigt, wie eine unschuldige Frau in den USA wegen Mordes hingerichtet wird.
Auch «Der dritte Mann» soll einer der Lieblingsfilme von Ruth Irene Kalder gewesen sein. In
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