Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
international bekannter Wissenschaftler und Publizist, sondern ein junger Doktorand an der Universität Boston. Für seine Promotion über KZ -Kommandanten reiste er durch Deutschland und traf die nächsten Angehörigen und Freunde vieler NS -Täter. Von ihnen erhoffte er sich Antworten auf die Fragen nach den Motiven und der seelischen Verfassung der KZ -Kommandanten. Später erschien seine Arbeit bei Rowohlt unter dem Titel «Die Soldaten des Bösen. Zur Geschichte der KZ -Kommandanten».
Seine Studie gibt nicht nur Aufschluss über die Psyche der Kommandanten, sondern auch über die ihrer nächsten Angehörigen, meist ihrer Witwen. Segev schreibt: «Sie erklärten sich zu einem Gespräch mit mir bereit, weil eine Vergangenheit sie verfolgte, der sie nicht zu entkommen vermochten … Jeder dieser Leute hoffte, es würde ihm gelingen – und sei es auch nur ein klein wenig –, seine Vergangenheit reinzuwaschen.»
Alle Befragten verharmlosten die Zeit im Lager. Fanny Fritzsch zum Beispiel, die Witwe des Auschwitz-Schutzlagerhaftführers Karl Fritzsch, hatte «keine Schwierigkeiten, sich die Greuel zu erklären, die man ihrem Mann vorwarf: Sie hatte einfach beschlossen, daß sie nie stattgefunden hatten», schreibt Tom Segev. In Auschwitz sei niemand umgekommen, so Fanny Fritzsch. Sie erzählte Segev, Fritzsch sei der «beste Mann auf Erden» gewesen, die gemeinsamen Kinder habe sie nach seinem Vorbild erzogen.
Ruth Irene Göth sticht aus der Reihe der Interviewten heraus: Zwar verharmlost auch sie die Taten Amon Göths, aber gleichzeitig liefert sie laut Segev einen Auftritt als verruchte Witwe und schwelgt geradezu in Erinnerungen an die Zeit im Lager. Segev schildert den Besuch bei Ruth Irene Göth so:
«In den späten siebziger Jahren wohnte Ruth Göth … in einer Wohnung, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. Sie empfing mich in einem chinesischen Wickelkleid. Staubbedeckte dunkelgrüne Samtvorhänge und schwere Möbel verliehen der Wohnung eine düstere Atmosphäre. Sie setzte sich auf die Couch, legte die Beine übereinander und rauchte, durch eine lange Zigarettenspitze, eine Zigarette nach der anderen, den kleinen Finger kokett nach oben gespreizt. Es war eine sorgfältige Inszenierung; als ehemalige Schauspielerin fiel es ihr nicht schwer, einen Nihilismus zur Schau zu tragen, der an die Zeit der Weimarer Republik erinnerte. ‹Ach ja, Płaszów›, sagte sie mit belegter, leicht kehliger Stimme, ‹ja, ja, Płaszów.› Sie hielt inne und meinte dann plötzlich: ‹Man wird Ihnen berichten, daß ich dort ein Pferd besaß und daß ich eine Hure war. Ich habe in der Tat mit einer ganzen Anzahl von Offizieren verkehrt. Doch nur bis ich Göth fand. Und er schenkte mir ein Pferd. Ich bin damals sehr gern geritten. Ach ja, Göth – welch ein Traum von Mann!› Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie jeden Augenblick ihrer Vorstellung genoß … ‹Es war eine schöne Zeit›, sagte seine Witwe. ‹Wir waren gerne miteinander. Mein Göth war König, ich war Königin. Wer würde sich das nicht gefallen lassen?› Es tue ihr lediglich leid, daß alles zu Ende sei, sagte sie.»
Über die Opfer Amon Göths sagte Ruth Irene Göth noch zu Tom Segev: «Das waren ja nicht wirklich Menschen wie wir. Sie waren doch so verdreckt.»
*
Ich stehe auf dem Wachturm und überblicke das weite Areal des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. «Mindestens so groß wie 100 Fußballfelder», schätzt ein Mitreisender neben mir auf Deutsch.
Auf dem Turm weht ein eisiger Wind. Ich überlege, ob ich den Reißverschluss meiner Jacke zuziehen soll. Die Menschen hier haben entsetzlich gefroren. Kann ich ihre Gefühle, ihre Verzweiflung besser nachempfinden, wenn ich meine Jacke offen lasse? Muss ich sie offen lassen? Muss ich mir vorstellen, wie sie zu mehreren in Stockbetten in der zugigen Baracke lagen, ohne Öfen, ohne Heizung, nachts nicht zur Toilette durften, und wenn einer von ihnen unter Durchfall litt, mussten sie sehen, wie sie klarkamen?
Bringt meine Reise nach Auschwitz überhaupt irgendetwas, steht nicht schon alles in den Geschichtsbüchern?
Ich bin das erste Mal hier, aber wenn ich ein Konzentrationslager zeichnen müsste, dann so: Das Tor von Auschwitz-Birkenau, die Gleise, die hineinführen, der weite Himmel über den Baracken. Wenn ich « KZ » denke, diese zwei Buchstaben, dann sehe ich die Gleise von Birkenau vor mir – und die Gesichter der ausgemergelten Menschen nach der Befreiung
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