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Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)

Titel: Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Teege , Nikola Sellmair
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der Konzentrationslager, ihre großen Augen tief in den Höhlen. Es sind Bilder, die nicht nur in meinem Gedächtnis fest verankert sind, sondern in dem der meisten Menschen.
    Ich gehe an den Gleisen entlang. Sie enden abrupt. Die Menschen, die hier aus den Viehwaggons stiegen, oft schon halb tot, wurden an der Rampe eingeteilt: die, die direkt in die Gaskammern mussten, und die, die noch arbeiten sollten. Hier kamen wahrscheinlich auch die Züge aus Płaszów an.
    Am Ende der Wiese, vor den Birken, standen die Gaskammern und Krematorien. Kurz vor ihrem Abzug im Januar 1945 bauten die Nazis die Gebäude ab und sprengten das letzte Krematorium.
    Über eine Million Menschen sind hier gestorben. Die Besucher stehen jetzt auf ihrer Asche.
    Einige der Mitreisenden stellen viele Fragen, ich beschränke mich aufs Zuhören. In der Kinderbaracke hängen an den nackten kalten Wänden naive Zeichnungen. Bilder einer heilen Kindheit: Kinder mit einer Puppe, einer Trommel, einem kleinen Holzpferd zum Ziehen. Ich muss an meine eigenen Söhne denken. Die Kinder hier waren allein, ohne Schutz.
    Der Reiseführer drängelt, wir müssen zurück zum Bus, gleich fahren wir weiter nach Auschwitz I, dem kleineren Stammlager. Nach ein paar Minuten sind wir da. Ich gehe durch das Tor mit dem Spruch «Arbeit macht frei», ich erkenne es sofort wieder. Auch dieses Tor habe ich schon unzählige Male auf Fotos gesehen. Es ist merkwürdig, jetzt dort hindurchzugehen, irgendwie unwirklich.
    Am Mahnmal des KZ Płaszów stand ich gestern nicht nur als Jennifer Teege, sondern auch als Enkelin von Amon Göth. Mein Großvater war dort die zentrale Figur, deshalb betraf der Ort mich unmittelbar. Jetzt, einen Tag später in Auschwitz, bin ich eine Besucherin unter vielen.
    Die Tour durch das umzäunte Gelände beginnt. Der Weg führt zu einer Reihe roter Backsteinhäuser, darin befinden sich die Ausstellungsräume mit Schaukästen, mit Fotos und Zahlen. So viele Zahlen. Zahlen haben etwas Unpersönliches, sie verwirren mich. Mit Buchstaben komme ich besser zurecht.
    Ich gehe von Haus zu Haus, von einem Ausstellungsteil zum nächsten. Auf den Raum, der mich im nächsten Haus erwartet, bin ich nicht vorbereitet: Hinter einer Glasscheibe stapeln sich Brillen. Daneben ein Raum mit Schuhen: Stiefel, Sandaletten, ein roter Damenhalbschuh.
    Und dann ein Berg menschliches Haar. Warum muss ich jetzt an meinen letzten Friseurbesuch denken? Nur ein Häuflein Spitzen blieb auf dem Boden zurück. Hier liegen zwei Tonnen. Sieben Tonnen Menschenhaar fand die Rote Armee nach der Befreiung des Lagers, davon sind hier zwei Tonnen ausgestellt. Sieben Tonnen Menschenhaar. Eine unvorstellbare Zahl! Es sind die Haare der ermordeten Frauen und Mädchen, man wollte sie für Filzstoffe und Pullover benutzen.
    Noch mehr Vitrinen. Krücken, Prothesen, Holzbeine, Stelzen, Bürsten, Rasierpinsel. Und Schnuller, Hemdchen, zwei kleine Holzpantinen, winzige Strickhandschuhe.
    Hinter Glas liegen Koffer mit Kreidebeschriftung. Namen und Adressen. Neubauer Gertrude, Waisenkind. Albert Berger, Berlin. Auch eine Hamburger Adresse ist dabei.
    Ich trete in schmale Gänge, sehe die Fotos von KZ -Insassen, eins reiht sich ans andere. Ich fotografiere gern, am liebsten Menschen. Möglichst nah, damit mir nichts entgeht. Ich schaue mir die Fotos genau an. Manche Häftlinge schauen stolz in die Kamera, andere ängstlich. Die meisten Blicke sind leer. Es sind die Porträts von Toten.
    Anfangs wurden ankommende Häftlinge fotografiert, später ersetzte die eintätowierte Häftlingsnummer diese Registrierung. Die Farbe, mit denen die Nummer in den Arm tätowiert wurde, stammte von der Firma Pelikan; in der Schule schrieben wir mit Pelikan-Füllern, Pelikan-Tinte, und dachten uns nichts dabei.
    Ich gehe hinaus, setze mich auf eine Bank und atme die frische Luft ein. Ich brauche eine Pause und möchte allein sein.
    Später schließe ich mich meiner Reisegruppe wieder an. Hinter hohen Mauern verbirgt sich der sogenannte «Todesblock». Im Hof wurden Häftlinge erschossen. Von außen konnte man nichts sehen, man hörte nur Schreie und Schüsse. Ich gehe nach unten in den dunklen Keller. In den Mauern enge schmale Schächte: Stehkammern, zum Sitzen zu eng. Um hineinzugelangen, musste man kriechen. Vier Männer mussten sich nach der täglichen Arbeit eine Zelle teilen und hier im Dunkeln stehen, die ganze Nacht. Eine Bestrafung für sogenannte Lagervergehen: Ein Häftling wurde zum Beispiel zu sieben

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