Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
tun, die vor 1945 in der SS oder anderen Naziorganisationen aktiv waren. Reue oder Scham schienen diese Menschen nicht zu empfinden: Sie und die anderen Deutschen lebten normal weiter, als hätte es das «Dritte Reich» nie gegeben. Mit dem Wissen um meine Familiengeschichte lese ich das Buch, denke dabei an meine Großmutter, die die Taten Amon Göths leugnete bis zum Schluss.
Heute gilt nicht mehr, was die Mitscherlichs Ende der sechziger Jahre schlussfolgerten: Die deutsche Vergangenheit war verleugnet und die eigene Schuld verdrängt worden; eigentlich hätte die gesamte Nation auf die Couch gehört.
Ich lese auch die Bücher anderer Nazi-Nachkommen, von Richard von Schirach, Sohn des Reichsjugendführers Baldur von Schirach, oder Katrin Himmler, Großnichte des SS -Führers Heinrich Himmler. Ihre Familiengeschichten interessieren mich, und ich suche nach Gemeinsamkeiten.
Ich beginne, genauer hinzuschauen, jeden in meinem Umfeld zu hinterfragen: Der Wiener Stiefvater meiner Adoptivmutter war mit Erwin Rommel in Afrika. Bei langen Bergwanderungen mit uns Kindern hat er Anekdoten aus dieser Zeit erzählt, spannende Abenteuergeschichten von aufrechten Kämpfern in der Wüste: wie sie morgens Wasser tranken, das sich auf den Zeltplanen gesammelt hatte. Wie sie einmal ein Auto aus den Sanddünen ausbuddeln mussten. Erst glaubten wir, der «Wiener Opa», wie wir ihn nannten, sei der persönliche Fahrer von Rommel gewesen. Er war aber nur Fahrer im deutschen Afrikakorps, sagte er. Irgendwann hatte ihn dann «der Engländer g’fangt», erzählte er in seinem Wiener Dialekt von seiner Kriegsgefangenschaft.
Nur eine Schauergeschichte gab es: Im Krieg, so der Wiener Opa, sei ein Soldat ermordet worden, der Kopf wurde ihm abgeschlagen, und danach lief er noch eine Weile ohne Kopf in der Gegend herum, wie ein aufgeregtes Huhn. Bei dieser Geschichte gruselten wir Kinder uns immer wieder gern.
Über seinen Chef fand der Wiener Opa nur lobende Worte. Rommel, der schlaue Wüstenfuchs, ein anständiger Nazi? Eine Legende. Was hat meine Adoptivfamilie verdrängt?
Ich erinnere mich wieder an Diskussionen mit meinem Adoptivvater. Er war sozial engagiert, politisch links und in der Friedensbewegung aktiv. Beim Thema Holocaust aber ließ ihn die Frage nicht los, ob denn die Zahl der Ermordeten wirklich korrekt sei, ob es nicht weniger gewesen seien. Mit Freunden stritt er sich heftig darüber. Meine Adoptivbrüder und ich fanden diese Diskussion unnötig und verstanden nicht, warum meinem Adoptivvater der Punkt so wichtig war.
Ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher: Bin ich wirklich so anders, liegt wirklich alles hinter uns? Was bedeutet es für mich, für unsere Zeit, dass mein Großvater ein Kriegsverbrecher war?
Meine Wahrnehmung verändert sich: Ereignisse, die sich vor langer Zeit zugetragen haben, sind plötzlich wieder ganz nah. Ich habe in den letzten Monaten so viel gelesen, so viele Filme gesehen, es scheint alles so unmittelbar. Für mich ist sie ja auch ganz frisch, ganz neu – diese alte Geschichte. Oft, beim Eintauchen in die Welt meines Großvaters, scheint es mir, als seien seine Verbrechen erst gestern geschehen.
Jetzt stehe ich in Krakau in dieser verrotteten Villa. Ich weiß noch nicht genau, was ich eigentlich hier will. Von diesem Haus, von dieser Stadt. Macht es wirklich Sinn, hier zu sein? Ich weiß nur, dass ich jetzt nach Krakau musste. Kurz zuvor bin ich im Krankenhaus gewesen, ich hatte eine Fehlgeburt.
Ich fühle mich erschöpft und traurig. Mein Therapeut hat mir davon abgeraten, in diesem Zustand nach Krakau zu fahren. Aber ich wollte diese Reise unbedingt machen. Zuerst bin ich nach Warschau geflogen und dann mit dem Zug weiter nach Krakau gefahren. In die Stadt, in der mein Großvater berüchtigt war. Auf die es Asche rieselte, als er gegen Kriegsende die Überreste Tausender Toter verbrennen ließ.
Ich will sehen, wo mein Großvater gemordet hat. Ihm ganz nahe kommen – und dann Abstand gewinnen.
Der alte Mann zeigt jetzt mit großer Geste auf das Wohnzimmer im Erdgeschoss. Hier fanden die Feste statt. Hier saßen sie, mein Großvater und die anderen Nazis, tranken Schnaps und Wein, Oskar Schindler war auch dabei. Der alte Mann führt mich auf die Terrasse. Er sagt, dass mein Großvater das Haus umgebaut hat, Balkone und Terrassen neu anlegen ließ. Der Ausblick ins Grüne sei ihm wichtig gewesen.
Das Haus muss einmal hübsch gewesen sein, der Stil gefällt mir. Hatte mein Großvater
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