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Amputiert

Amputiert

Titel: Amputiert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gord Rollo
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der Fahrer der Limousine eine direkte Verbindung zu meinem Gehirn und könnte meine Gedanken hören, hielt der Wagen unvermittelt an. Ich blickte aus dem Fenster und stellte überrascht fest, dass wir uns wieder dort befanden, von wo wir aufgebrochen waren. Vom gemütlichen, weichen Ledersitz aus konnte ich unseren rostigen Müllcontainer unter der Eisenbahnbrücke und Puckman sehen, der immer noch davor kauerte und ungestüm rote, saftige Brocken aus seinem widerwärtigen Essen biss.
    Es stand mir frei zu verschwinden. Ich brauchte nur die Tür zu öffnen und wegzugehen. Warum war ich dann noch nicht ausgestiegen? Immerhin hatte ich mich doch entschieden, oder? Ich konnte mich nicht auf diese Geschichte einlassen, richtig? Ich warf einen weiteren Blick auf das Leben in Armut und Würdelosigkeit, das mich draußen erwartete. Hatte ich mich entschieden? Ja, ich schätze, das hatte ich.
    »Schreiben Sie mich ein, Drake«, sagte ich. »Ich bin dabei.«

Kapitel 6
    Ich fühlte mich wie ein idiotisches kleines Kind, das ungeduldig auf den Schulbus wartete, als ich in meiner blauen Bomberjacke und mit meinem schäbigen Koffer in der Hand an der Carver Street stand, bereit, von Drake mit der weißen Limousine abgeholt zu werden. Er hatte zu mir gesagt, ich solle halb acht fertig sein, aber da ich keine Uhr besitze, stand ich bereits seit kurz nach Sonnenaufgang da, um die Fahrt nicht zu verpassen.
    Die vergangenen drei Tage waren nur so verflogen. Es ist schon komisch: Davor war mir nie aufgefallen, wie sehr sich die Zeit verlangsamt hatte, da sie im Grunde genommen bedeutungslos wurde, wenn man obdachlos ist. Wenn man nach keinerlei Zeitplan lebte, nicht zur Arbeit musste, keine Anrufe zu tätigen, keine Post zu öffnen, keine Rechnungen zu bezahlen, keine Termine einzuhalten und keine Familie hatte, mit der man in Kontakt blieb, welche Rolle spielte es dann, wie spät es war? Oder welcher Wochentag, welcher Monat oder welches Jahr? Jede Minute jedes Tages war mit demselben, statischen, vergeudeten Leben ausgefüllt. Seit ich jedoch in Drakes bizarren Vorschlag eingewilligt hatte, war Zeit – oder vielleicht deren Mangel – plötzlich wieder wichtig für mich geworden.
    Ich konnte nicht aufhören, an meinen rechten Arm und daran zu denken, wie bald er verschwunden sein würde. Jedes Mal, wenn ich ihn benutzte, um etwas aufzuheben, ein Glas Wasser zu trinken oder mich am Hintern zu kratzen, ging mir durch den Kopf: Tja, bald kannst du das nicht mehr machen, Mike. Nie wieder.
    Ich versuchte, nicht mehr daran zu denken, doch das erwies sich als nahezu unmöglich. Was ist mit Schuhen? Du wirst keine Schuhe mit Schnürsenkeln mehr tragen können, weil du nicht in der Lage sein wirst, sie dir selbst zuzubinden. Die Liste der Dinge, die ich nie wieder tun können würde, schien endlos zu sein. Wie sollte ich nur zurechtkommen?
    Zum Glück boten zwei Millionen Dollar eine Menge Motivation, um so gut wie allem optimistisch entgegenzusehen, und tief in meinem Innersten glaubte ich, dass ich mich an jedwede Unbilden gewöhnen würde, die vor mir liegen mochten. Immerhin würde ich noch meinen unversehrten linken Arm haben, und wenn der gerade beschäftigt wäre, konnte ich mir immer noch jemanden anheuern, der mich am Hintern kratzte.
    Galgenhumor; gut für die Seele.
    »Mach schon, Drake, beeil dich, bevor ich’s mir anders überlege.«
    Ich hatte nichts dergleichen vor, aber es auszusprechen, half mir, die Gedanken von meinem Arm abzulenken.
    Die vierhundert Dollar, die Drake mir gegeben hatte, waren weg. Am Mittwoch waren Blue J und ich in die Stadt gegangen und hatten uns im protzigen Four Seasons eine Suite gemietet. Wir ließen es uns wirklich gutgehen, jedenfalls im Vergleich zu unseren üblichen Standards. Unser Zimmer war riesig und besaß getrennte Wohn- und Schlafbereiche. Im Wohnzimmer gab es eine Ledercouch, Stühle, einen Rollschreibtisch aus Eichenholz und eine komplette Heimkinoanlage mit Stereoturm, Surround-Sound-Lautsprechern und Breitbild-Satelliten-TV. Das Schlafzimmer wartete mit einem extragroßen Himmelbett samt glänzenden Satinlaken und einem Balkon mit Blick auf den Lake Erie auf.
    Das Beste aber war das Badezimmer, in dem es eine Wanne für vier Personen und genug kostenlose Seifen, Shampoos und Schaumbäder gab, um eine Armee sauber zu bekommen. Blue J und ich bestellten erst Steaks und Wein, später Pizza, Hühnchenflügel und Bier und verbrachten fast die gesamte Nacht feiernd in der Wanne. Leider

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