Amputiert
weitere Videos mit Ihnen drehen, und ich bin nicht sicher, weshalb.«
»Wer weiß?«, meinte ich. »Klingt nach nichts Aufregendem. Großer Gott, Sie glauben doch nicht, die zwingen mich, draußen nackt rumzulaufen, oder?«
»Niemals, zumindest hoffe ich das. Dafür ist es draußen zu kalt.«
Es ist draußen kalt?
Halt mal. Plötzlich wurde mir klar, dass ich keine Ahnung hatte, welcher Monat war, geschweige denn, welches Datum. Wie lange war ich schon hier? Ich war im September angekommen, aber wie viel Zeit war verstrichen, während ich nach den verschiedenen Operationen weggetreten oder während der Erholungsphasen durch Medikamente ins Traumland geschickt worden war?
»Welches Datum haben wir, Junie?«, fragte ich mit mehr Verzweiflung in der Stimme, als ich beabsichtigt hatte.
Etwas verzagt antwortete sie: »Es ist der 20. Oktober.« Sie sah vorher, wohin mein Gedankengang führte, und fügte hinzu: »Sie sind seit etwas mehr als dreizehn Monaten hier.«
Dreizehn Monate! Wirklich so lange?
Nun, in Anbetracht dessen, dass ich wahrscheinlich mindestens die Hälfte der Zeit entweder im Koma oder im Fantasieland verbracht hatte, fiel es mir nicht schwer, das zu glauben. Ich ging zum Fenster und warf einen Blick nach draußen – ich hatte schon ewig nicht mehr daran gedacht, das zu tun. Ich rechnete damit, dunkle Gewitterwolken zu sehen, die den Himmel verhüllten, und dass Schnee den Boden bedeckte, doch stattdessen schien die Sonne auf ein grasbewachsenes Feld. Dahinter konnte ich einen Wald ausmachen, und tatsächlich, die Blätter der Bäume wiesen ihre Herbstfarben auf, und viele waren bereits abgefallen.
» So schlimm sieht es nicht aus«, befand ich.
»Lassen Sie sich von der Sonne nicht täuschen«, entgegnete Junie. »Es ist heute windig und so kalt, dass es glatt durch einen durchbläst und die Knochen gefrieren lässt.«
Die Bäume schienen ziemlich heftig durchgepeitscht zu werden, besonders die höher gelegenen Zweige, die einen seltsam hypnotischen Tanz mit dem Wind aufführten und sich nach links neigten. Alle paar Sekunden richteten sie sich wie auf ein Stichwort kurz auf, dann wurden sie sofort zurück auf den Tanzboden geblasen.
»Ziehen Sie unbedingt eine Jacke an«, sagte Junie.
»Ich habe keine.«
»Sicher haben Sie eine. Die Jacke, mit der Sie letztes Jahr hier aufgekreuzt sind, hat in einem Spind unten im Lager gehangen. Ich habe sie mitgebracht. Ihre anderen Kleider konnte ich nicht finden, vielleicht wurden sie verbrannt, aber ich habe andere Sachen aufgetrieben, die Sie warm halten werden. Die Stiefel dürften ein wenig groß sein.«
Junie ließ die Kleider, die sie mitgebracht hatte, vor meine Füße fallen. Der Anblick meiner alten, blauen Bomberjacke zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht. Sie war alt und zerlumpt und hätte wahrscheinlich mit dem Rest von meinem Kram verbrannt werden sollen, aber ich bückte mich und hob sie fast ehrfurchtsvoll vorsichtig auf. Meine Frau hatte mir diese Jacke zu unserem letzten gemeinsamen Weihnachtsfest geschenkt; eine Träne löste sich von meinem Auge, als mir klar wurde, dass sie meinen einzigen Besitz auf der Welt darstellte. Meine Beine gehörten nicht mir, mein Herz gehörte nicht mir, aber diese alte Bomberjacke, die genauso viele Erinnerungen barg, wie sie Löcher aufwies – sie gehörte mir, und das war ein gutes Gefühl. Ein richtig gutes Gefühl.
»Danke, Junie«, sagte ich. »Diese Jacke bedeutet mir eine Menge. Mehr als man glauben möchte, wenn man sie ansieht.«
»Gut. Dann ziehen Sie sich an. Wenn wir uns nicht beeilen, kommt Drake wieder nach uns suchen.«
Rasch tat ich, wie mir geheißen. Ich freute mich darauf, hinauszugehen. Ich war nicht sicher, weshalb, aber ich war so lange in diesem Höllenbau eingesperrt gewesen, dass mich der Gedanke an frische Luft – unabhängig davon, wie kalt sie sein mochte – erregte und anspornte. Natürlich durfte ich nicht einfach so zur Vordertür hinauslaufen. Junie und ich wurden von einem großen, stämmigen Wachmann namens Jackson begleitet. Er führte mich durch einen Nebeneingang, den ich noch nie gesehen hatte, dann weiter zu Drake, der mit Kameras wartete.
Eigentlich nur mit einer Kamera.
Verschwunden waren die grellen Lichter, die Filmmannschaften, die Digitalmikrofone. Auch all die Leute vom Dreh am Vortag fehlten – am auffälligsten war Dr. Marshalls Abwesenheit. Das konnte kein gutes Zeichen sein. Da war nur Drake, der mürrisch dreinschaute und dem kalt zu sein
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