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Amputiert

Amputiert

Titel: Amputiert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gord Rollo
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gewesen. Vertraute Gesichter machten es schwerer und schürten meine Wut zusätzlich. Diese armen Teufel hatten die ganze Zeit hier gelegen, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, und alles, was sie tun konnten, war, sich langsam ausbluten zu lassen und auf den Tod zu hoffen.
    Ich war hier, um ihre Gebete zu beantworten.
    Ich wollte es nicht tun – verdammt, ich war nicht einmal sicher, ob ich es überhaupt konnte. Aber ich war hier, um es wenigstens zu versuchen. Diese Männer hatten genug gelitten, und wenngleich ich nur Lucas versprochen hatte, ihm zur Reise an einen besseren Ort zu verhelfen, hatte ich das Gefühl, dass ich denselben Gnadenakt auch allen anderen schuldete. Was hatte ich schon für eine Wahl? Ich konnte niemanden retten, sehr wohl hingegen konnte ich ihrem endlosen Elend ein Ende bereiten und gewährleisten, dass sie die bevorstehende Explosion nicht irgendwie überleben würden. Das wäre das Letzte, was sie wollten. Der Tod und ich waren die einzigen Freunde, die sie noch hatten.
    Lucas musste gehört haben, wie ich hereinkam, denn er drehte den Kopf und blickte in meine Richtung. Ich hob die Hand, winkte und ging auf ihn zu, doch das Lächeln, das ich aufsetzen wollte, erstarrte auf meinen Lippen, als mir die verängstigte Miene im Gesicht des alten Mannes auffiel. Er sah aus, als würde er gleich schreien. Wusste er nicht, wer ich war? Oder hatte sich sein Verstand letztlich durch die ständigen Misshandlungen verabschiedet?
    So etwas schafft einen Mann nach einer Weile. Es schafft ihn, bis er überschnappt.
    Ich konnte mich noch gut an den Tag erinnern, als er diese Worte gesagt hatte. Es schien mir gestern gewesen zu sein, und hier hatte sich eindeutig nichts geändert, das Anlass gegeben hätte, diese Einschätzung zu überdenken. Ich blieb stehen und hob die Hände vor mich. Hoffentlich würde er verstehen, dass ich nicht hier war, um ihm wehzutun.
    »Hab keine Angst, Lucas. Ich bin’s bloß, Mike«
    Beim Klang meiner Stimme schlug Rotbart die Lider auf und sah mich vom nächsten Bett aus an. Seine Augen weiteten sich, und ich fürchtete, auch er könnte mit dem Gedanken spielen zu schreien. Sein Mund klappte auf, und einige Sekunden verstrichen, bevor er fragte: »Mike? Bist das wirklich du?«
    Lucas’ Kopf schwenkte jäh in Rotbarts Richtung, und ein Teil der Besorgnis floss aus seiner gerunzelten Stirn ab. »Du siehst ihn auch, Red?«
    »Klar sehe ich ihn«, hallte Rotbarts tiefe Stimme durch den Raum. »Er steht doch direkt vor uns, oder?«
    »Geht es euch beiden gut?«, fragte ich, da mir sonst nichts einfiel, als ich mich an die Fußenden ihrer Betten stellte.
    Lucas zuckte beim Klang meiner Stimme leicht zusammen, aber er ließ darauf ein nervöses Lachen folgen, das meine Frage besser beantwortete, als es Worte je vermocht hätten.
    »Herrgott, Mike, ich dachte, du wärst ein verfluchter Geist. Ohne Scheiß. Red und ich dachten, du seist längst tot, und dann kreuzt du aus dem Nichts auf, marschierst hier rein, als ...«
    Plötzlich verstummte er, und alle restliche Farbe wich aus seinem bereits blassen Gesicht. Sowohl Lucas als auch Rotbart musterten mich von Kopf bis Fuß, und ein wenig Angst kehrte in ihre Augen zurück. Ich wusste sofort, was ihnen durch die Köpfe ging. Als sie mich zuletzt gesehen hatten, wurde ich festgezurrt auf einer Lederbahre aus diesem Raum gekarrt und hatte genauso viele Arme und Beine wie sie – keine. Nun stand ich vor ihnen und war wieder ein vollständiger Mensch. Kein Wunder, dass sie erschrocken waren. Ich wäre es auch gewesen.
    Ich hatte weder die Zeit noch die Kraft, die gesamte Geschichte zu erzählen, und letztlich machte es kaum einen Unterschied, wie ich hier auftauchen konnte; wichtig war nur, warum ich hier war.
    »Hört mal, Leute, das ist eine lange Geschichte, und ich will sie jetzt echt nicht lang und breit erzählen. Die abgespeckte Kurzfassung ist, dass Dr. Marshall immer noch sein altes Ziel verfolgt und mich mit den Körperteilen mehrerer Leute wieder zusammengestückelt hat. Ich bin durch die Hölle und wieder zurück gegangen, also glaubt nicht, ich sei glücklicher als ihr, nur weil ich hier stehe. Glaubt mir, das bin ich nicht.«
    Eine halbe Minute lang herrschte Schweigen im Raum, während sie verdauten, was ich ihnen gesagt hatte. Sie sahen einander mehrere Male mit verwirrten Mienen an, aber dann schienen sich beide damit abzufinden, ohne weitere Fragen zu stellen. Für diese kleine Gnade war ich

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