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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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weilte er zufrieden anderswo, als er die Musik hörte, nach der er gesucht hatte, oder zumindest einen Hinweis auf ihre Form.
    Es war ein Geschenk des Himmels: Als er näher kam, flog vor ihm mit lautem Schreckensruf ein großer, grauer Vogel auf. Während dieser an Höhe gewann und über dem Tal kreiste, stieß er einen piepsenden Schrei aus, den Clive wiedererkannte: Es war die Umkehrung eines Motivs, das er bereits für Pikkoloflöte gesetzt hatte. Wie elegant, wie einfach. Die Umkehrung der Tonfolge eröffnete ihm die Möglichkeit einer schlichten und schönen Weise im [104]  Viervierteltakt, die er beinahe schon hören konnte. Aber doch noch nicht ganz. Ihm fiel das Bild einer ausziehbaren Treppe ein, deren Stufen herabglitten – aus der Falltür eines Dachbodens oder aus der Tür eines Leichtflugzeugs. Ein Ton kündigte den nächsten an, nahm ihn vorweg. Er hörte sie, er hatte sie, dann waren sie wieder verschwunden. Es blieben die quälende Glut eines Nachbilds und der verklingende Ruf einer traurigen kleinen Weise. Diese Synästhesie war die reinste Folter. Die Töne waren auf vollkommene Art ineinandergefügt, kleine gutgeölte Scharniere, mit deren Hilfe die Melodie einen vollkommenen Bogen beschrieb. Als er die schräge Felsenplatte erreichte und anhielt, um nach dem Notizbuch und dem Bleistift in seiner Tasche zu greifen, hätte er sie fast wieder gehört. Sie war nicht nur traurig. In ihr lag auch Fröhlichkeit, zuversichtliche Entschlossenheit gegen eine große Übermacht. Mut.
    In der Hoffnung, den Rest herbeizwingen zu können, begann er die Bruchstücke des Gehörten zu notieren, als er eines anderen, nicht imaginären Lauts inne wurde. Es war kein Vogelruf, sondern das Murmeln einer Stimme. Er war so konzentriert, daß er der Versuchung aufzuschauen beinahe widerstanden hätte, aber dann konnte er doch nicht umhin. Als er über die vorspringende Felsenplatte spähte, die zehn Meter tief abfiel, erblickte er unter sich einen winzigen Bergsee, kaum größer als ein breiter Tümpel. Auf dem Gras, das diesen auf der anderen Seite säumte, stand die Frau, die er hatte vorbeieilen sehen, die Frau in Blau. Ihr gegenüber stand ein Mann, der mit einer tiefen Brummstimme ununterbrochen auf sie einredete und ganz gewiß nicht wie ein Wanderer gekleidet war. Sein Gesicht war lang [105]  und dünn, wie das eines Rüsseltieres. Er trug ein altes Tweedjackett, eine graue Flanellhose und eine flache Stoffmütze. Um den Hals hatte er einen schmutzigweißen Tuchfetzen geschlungen. Vielleicht ein Bergbauer oder ein Freund, der es verschmähte, zu wandern und die entsprechende Kleidung zu tragen, und der gekommen war, um sich mit ihr zu treffen. Wie Clive es sich ausgemalt hatte – die heimliche Zusammenkunft.
    Die deutlichen Gestalten zwischen den Felsen – eine gewaltige Überraschung – schienen allein ihm zuliebe dazusein. Es war, als handle es sich um Schauspieler, die ein Tableau bildeten, dessen Bedeutung er erraten sollte, als meinten sie es nicht ganz ernst und täuschten nur vor, nicht zu wissen, daß er sie beobachtete. Was immer hier vorging, Clives erster Gedanke war klar wie eine Neonschrift: Ich bin nicht hier.
    Er duckte sich und fuhr mit seinen Notizen fort. Wenn es ihm gelänge, die bekannten Elemente jetzt aufs Papier zu bannen, könnte er sich leise an eine andere Stelle auf dem Kamm zurückziehen und den Rest erarbeiten. Als er die Frauenstimme hörte, wollte er sie nicht wahrhaben. Es war schon schwer genug, einzufangen, was ihm noch eine Minute vorher so klar vorgekommen war. Eine Weile quälte er sich ab, dann fand er es wieder, jenes Ineinandergreifen, so faßbar, wenn es vor ihm stand, so schwer faßbar, sobald seine Aufmerksamkeit erlahmte. Er strich die Noten ebenso schnell durch, wie er sie hinkritzelte, doch als er hörte, wie die Stimme der Frau zu einem plötzlichen Schrei anschwoll, erstarrte seine Hand.
    Er wußte, es war ein Fehler, er wußte, er hätte [106]  weiterschreiben sollen, trotzdem spähte er ein weiteres Mal über den Felsen. Inzwischen hatte sie sich umgewandt und blickte in Clives Richtung. Er schätzte sie auf Ende Dreißig. Sie hatte ein kleines, dunkles, knabenhaftes Gesicht und gelocktes schwarzes Haar. Sie und der Mann kannten einander, denn sie stritten – aller Wahrscheinlichkeit nach ein Ehekrach. Sie hatte ihren Rucksack auf dem Boden abgestellt und stand in einer Trotzhaltung da, breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf leicht nach

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