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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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hinten gebogen. Der Mann trat einen Schritt auf sie zu und faßte sie am Ellbogen. Mit einer jähen Armbewegung schüttelte sie ihn ab. Dann schrie sie etwas, hob ihren Rucksack auf und versuchte, ihn über die Schulter zu schlingen. Aber er hatte ihn gleichfalls gepackt und zog daran. Ein paar Sekunden lang rauften sie, und der Rucksack wurde bald in diese Richtung, bald in jene gezerrt. Dann bekam der Mann ihn ganz zu fassen und schleuderte ihn mit einer einzigen verächtlichen Bewegung, einem bloßen Rucken des Handgelenks, in den Bergsee, wo er, halb unter Wasser, auf und ab tanzte und langsam unterging.
    Die Frau tat zwei rasche Schritte ins Wasser, dann besann sie sich anders. Als sie sich umwandte, machte der Mann einen weiteren Versuch, ihren Arm zu packen. Die ganze Zeit über sprachen und zankten sie, aber der Klang ihrer Stimmen drang nur zeitweilig an Clives Ohr. Den Bleistift zwischen den Fingern, das Notizbuch in der anderen Hand, lag er auf seiner schrägen Felsenplatte und seufzte. Sollte er wirklich eingreifen? Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er hinabrannte. Sobald er bei ihnen ankäme, würden sich die Möglichkeiten gabeln: Der Mann mochte davonrennen; [107]  die Frau wäre dankbar, und gemeinsam könnten sie über Seatoller zur Hauptstraße absteigen. Selbst dieser, der unwahrscheinlichste Ausgang würde seine delikate Eingebung zunichte machen. Wahrscheinlicher war es, daß der Mann seine ganze Aggression gegen Clive richten würde, während die Frau hilflos zusähe. Oder voller Genugtuung; denn auch dies war möglich: daß sie einander eng verbunden waren, daß sie sich beide gegen ihn wenden würden, weil er sich erdreistet hatte, sich einzumischen.
    Die Frau schrie von neuem auf, und Clive, der gegen den Felsen gepreßt dalag, schloß die Augen. Etwas Kostbares, ein Kleinod, entglitt ihm. Es hätte eine andere Möglichkeit gegeben; statt hier heraufzuklettern, hätte er sich entscheiden können, an den fluoreszierenden Schulkindern vorbei zum Sty Head hinunterzulaufen und die Corridor Route zum Scafell Pike zu wählen. Was immer hier vor sich ging, hätte ohnedies seinen Lauf genommen. Ihr Schicksal, sein Schicksal. Das Kleinod, die Melodie. Deren Bedeutung lastete auf ihm. So vieles hing davon ab: die Sinfonie, die Festlichkeiten, seine Reputation, des vielbeklagten Jahrhunderts Ode an die Freude. Er zweifelte nicht daran, daß das, was er da mit halbem Ohr gehört hatte, Bestand haben würde. In dessen Schlichtheit lag die Autorität eines ganzen Lebenswerks. Auch daran zweifelte er nicht, daß es kein Stück Musik war, welches nur darauf geharrt hatte, aufgefunden zu werden; vielmehr hatte er, bis er gestört worden war, daran gearbeitet, es zu erschaffen, es zu schmieden aus dem Ruf eines Vogels, hatte sich die wache Passivität eines willigen schöpferischen Geistes dienstbar gemacht. Eines stand fest, er mußte sich [108]  entscheiden: Entweder kletterte er hinunter und beschützte die Frau, falls sie des Schutzes bedurfte, oder er stahl sich davon, am Hang des Glaramara entlang, um eine geschützte Stelle zu finden, wo er seine Arbeit fortsetzen konnte – wenn es dafür nicht schon zu spät war. Was er nicht konnte, war hierbleiben und nichts tun.
    Als eine wütende Stimme erscholl, schlug er die Augen auf und zog sich hoch, um einen weiteren Blick hinabzuwerfen. Der Mann hatte die Frau am Handgelenk gepackt und versuchte, sie um den Bergsee herum zu dem Windschatten der senkrechten Felswand direkt unter Clive zu zerren. Mit der freien Hand scharrte sie auf dem Boden, womöglich suchte sie einen Stein, den sie als Waffe benutzen könnte, aber das erleichterte es ihm nur, sie weiterzuzerren. Ihr Rucksack war untergegangen. Die ganze Zeit über redete der Mann auf sie ein, er hatte die Stimme wieder gesenkt – ein unablässiger, undeutlicher Brummton. Plötzlich gab sie einen flehenden Jammerlaut von sich, und Clive wußte genau, was er zu tun hatte. Noch als er den Hang hinabstieg, begriff er, daß sein Zögern geheuchelt war. Er hatte sich in dem Augenblick entschieden, als er gestört worden war.
    Auf ebenem Gelände eilte er die Strecke zurück, auf der er gekommen war, dann stieg er in einem weitausholenden Bogen auf dem Westhang unterhalb der Kammlinie ab. Zwanzig Minuten später fand er einen flachen Felsen, den er als Tisch benutzen konnte, und stand über seine Kritzeleien gebeugt da. Es fiel ihm fast nichts mehr ein. Er versuchte, sich die Melodie ins Gedächtnis

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