Amsterdam
zurückzurufen, doch in seiner Konzentration wurde er von einer anderen [109] Stimme, der beharrlichen inneren Stimme der Selbstrechtfertigung, gestört: Wozu auch immer es geführt hätte – zu Gewalt, zur Androhung von Gewalt, zu verlegenen Entschuldigungen oder gar zu einer Zeugenaussage vor der Polizei –, wenn er sich dem Paar genähert hätte, wäre ein entscheidender Augenblick in seiner Laufbahn ruiniert worden. Die Melodie hätte die seelische Erregung nicht überdauert. In Anbetracht des breiten Gebirgskamms und der zahllosen Pfade, die ihn kreuzten, hätte er gar nicht mit ihnen zusammentreffen müssen. Es war geradeso, als sei er überhaupt nicht da. Er war nicht da. Er war in seiner Musik. Sein Schicksal, ihr Schicksal, getrennte Wege. Es ging ihn nichts an. Dies hier ging ihn an, und es war mühselig, und er bat niemanden um Hilfe.
Endlich gelang es ihm, sich zu beruhigen, und er arbeitete sich von hinten vor. Hier waren die drei Töne des Vogelrufs, hier wurden sie umgekehrt für die Pikkoloflöte, und hier war der Anfang der ineinandergreifenden, sich ausweitenden Stufen…
Eine Stunde blieb er so über seine Komposition gebeugt. Schließlich steckte er das Notizbuch in die Tasche und lief, rasch ausschreitend, weiter. Dabei hielt er sich die ganze Zeit an die westliche Seite des Gebirgskamms und war bald zum Hochmoor abgestiegen. Um zum Hotel zu gelangen, brauchte er drei Stunden, und als er eben ankam, setzte der Regen wieder ein. Ein Grund mehr, seinen Aufenthalt vorzeitig zu beenden, seine Tasche zu packen und die Kellnerin darum zu bitten, ihm ein Taxi zu bestellen. Der Lake District hatte ihm geschenkt, was er brauchte. Im Zug konnte er weiterarbeiten, und wenn er zu Hause wäre, [110] würde er die erhabene Tonfolge und die wunderbaren Harmonien, die er dazu ersonnen hatte, dem Klavier anvertrauen und ihre Schönheit und Trauer freisetzen.
Bestimmt geschah es aus schöpferischer Erregung, daß er, während er auf sein Taxi wartete, in der engen Hotelbar auf und ab ging und dann und wann den in seinem immergrünen Blattwerk kauernden ausgestopften Fuchs anstarrte. Aus innerer Erregung geschah es, daß er etliche Male auf die Straße hinaustrat, um zu sehen, ob sein Wagen angekommen war. Er sehnte sich danach, das Tal zu verlassen. Als man ihm die Ankunft seines Taxis mitteilte, hastete er hinaus, schleuderte seine Tasche auf den Rücksitz und wies den Fahrer an, sich zu beeilen. Er wollte fort, er sehnte sich danach, im Zug zu sitzen und südwärts zu rasen, weg von den Lakes. Es verlangte ihn wieder nach der Anonymität der Großstadt, der Beengtheit seines Ateliers, und bestimmt – er hatte gewissenhaft darüber nachgedacht – war es innere Erregung und nicht Beschämung, was ihm dieses Gefühl eingab.
[111] IV
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Rose Garmony wachte um sechs Uhr dreißig auf, und noch bevor sie die Augen aufschlug, mußte sie an die Namen dreier Kinder denken, die ihr auf der Zunge lagen: Leonora, John, Candy. Darauf bedacht, ihren Mann nicht zu wecken, stieg sie vorsichtig aus dem Bett und griff nach ihrem Morgenrock. Am Vorabend hatte sie als letztes noch einmal ihre Notizen durchgelesen und am Nachmittag Candys Eltern getroffen. Die anderen beiden Krankheitsfälle waren Routineangelegenheiten: eine diagnostische Bronchoskopie infolge der Aspiration einer Erdnuß und die Einführung eines Brustdrains wegen eines Lungenabszesses. Candy war ein stilles, kleines westindisches Mädchen, dessen Haar von seiner Mutter während der eintönigen Routine einer langen Krankheit immer wieder zurückgekämmt und mit Bändern geschmückt worden war. Der Eingriff am offenen Herzen würde mindestens drei, möglicherweise fünf Stunden in Anspruch nehmen, bei ungewissem Ausgang. Der Vater, dem ein Lebensmittelladen in Brixton gehörte, hatte einen Korb mit Ananas, Mangos und Weintrauben in die Sprechstunde mitgebracht – ein Sühneopfer für den grimmigen Gott des Skalpells.
Die Küche war vom Duft dieser Früchte erfüllt, als Mrs. Garmony auf bloßen Füßen eintrat, um Wasser aufzusetzen. Während sich das Wasser erhitzte, lief sie durch die [114] schmale Diele der Wohnung zu ihrem Arbeitszimmer und packte ihre Aktentasche. Dabei hielt sie inne, um noch einmal einen Blick auf ihre Notizen zu werfen. Sie rief den Parteivorsitzenden zurück, danach schrieb sie ihrem erwachsenen Sohn, der im Gästezimmer schlief, einen Zettel. Anschließend ging sie wieder in die Küche, um den Tee
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