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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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aufzubrühen. Sie nahm ihre Tasse mit ans Küchenfenster und spähte, ohne die Spitzengardine zu bewegen, hinunter auf die Straße. Auf dem Gehsteig der Lord North Street zählte sie acht Personen, drei mehr als um dieselbe Zeit am Vortag. Von Fernsehkameras oder von den Polizeibeamten, die der Innenminister persönlich versprochen hatte, war nichts zu sehen. Sie hätte dafür sorgen sollen, daß Julian in Carlton Gardens übernachtete statt hier in ihrer alten Wohnung. Angeblich waren alle diese Leute Rivalen, dabei standen sie in einer lockeren Gesprächsrunde beisammen, wie Männer an einem Sommerabend vor einem Pub. Einer von ihnen kniete auf dem Boden und befestigte etwas an einer Aluminiumstange. Dann stand er auf und ließ seine Augen über die Fenster wandern. Er schien sie zu bemerken. Sie beobachtete ihn ausdruckslos, als plötzlich eine Kamera auftauchte und auf sie zugefahren kam. Als diese fast auf einer Höhe mit ihrem Gesicht war, trat sie vom Fenster zurück und ging nach oben, um sich anzukleiden.
    Eine Viertelstunde später lugte sie noch einmal verstohlen nach unten, diesmal vom Wohnzimmerfenster aus, zwei Stockwerke höher. Sie fühlte sich genauso, wie sie sich vor einem schwierigen Arbeitstag im Kinderkrankenhaus gern fühlte: gelassen, hellwach, darauf bedacht, mit der Arbeit zu beginnen. Am Vorabend keine Gäste, zum Abendessen [115]  keinen Wein, eine Stunde über ihren Notizen, sieben Stunden ungestörten Schlafes. Durch nichts würde sie sich von dieser Stimmung abbringen lassen, und so blickte sie gebannt, aber beherrscht auf die Gruppe, die inzwischen auf neun Personen angewachsen war. Der Mann hatte seine ausfahrbare Stange zusammengeschoben und gegen das Geländer gelehnt. Ein anderer brachte ein Tablett mit Kaffee von der Imbißstube in der Horseferry Road. Was in aller Welt hofften sie in die Finger zu bekommen, was sie nicht bereits besaßen? Und so früh am Morgen? Welche Befriedigung verschaffte ihnen diese Art von Arbeit? Und weshalb sahen sie einander so ähnlich, diese Wegelagerer, als entstammten sie einem winzigen menschlichen Genrepertoire? Großgesichtige, pausbäckige, aufdringliche Männer in Lederjacken, die mit demselben Akzent sprachen, einem seltsamen Gemisch aus nachgeahmtem Cockney und nachgeahmtem Oxford-Englisch, das sie mit demselben inständigen, streitlustigen Gejaule vortrugen: Hierher bitte, Mrs.   Garmony! Rose!
    Rose, inzwischen fertig angekleidet und aufbruchsbereit, brachte Garmony seinen Tee und die Morgenzeitungen in das abgedunkelte Schlafzimmer. Am Fußende des Bettes zögerte sie. Seit einiger Zeit waren seine Tage so scheußlich, daß sie ihn für den kommenden nur widerstrebend aufweckte. Gestern abend war er von Wiltshire zurückgefahren und, Scotch schlürfend, lange mit einem Video von Bergmans Zauberflöte aufgeblieben. Dann hatte er sämtliche Briefe von Molly Lane hervorgekramt, all die, die seinem grotesken Verlangen frönten. Gott sei Dank war diese Episode ausgestanden, Gott sei Dank war die Frau tot. Die [116]  Briefe lagen immer noch auf dem Teppich verstreut, und er würde sie wegschließen müssen, bevor die Putzfrau kam. Auf dem Kissen war nur sein Scheitel zu sehen – noch immer war sein Haupthaar schwarz, trotz seiner zweiundfünfzig Jahre. Sie zauste es zärtlich. Manchmal, wenn sie Visite machte, geschah es, daß eine Krankenschwester auf diese Weise ein Kind für sie weckte, und Rose war stets gerührt von der sekundenlangen Verwirrung in den Augen irgendeines kleinen Jungen, wenn er begriff, daß er nicht zu Hause war und die Berührung nicht von seiner Mutter stammte.
    »Liebling«, flüsterte sie.
    Seine Stimme wurde von dem winterlichen Federbett gedämpft. »Sind sie da draußen?«
    »Neun.«
    »Scheiße.«
    »Ich muß mich beeilen. Ich rufe dich an. Hier.«
    Er zog die Bettdecke von seinem Gesicht und setzte sich auf. »Ach ja. Das kleine Mädchen. Candy. Viel Glück.«
    Als sie ihm die Tasse in die Hand drückte, küßten sie einander leicht auf die Lippen. Sie legte ihm ihre Hand auf die Wange und erinnerte ihn an die Briefe auf dem Fußboden. Dann ging sie leise davon und begab sich nach unten, um ihre Sekretärin im Krankenhaus anzurufen. In der Diele zog sie sich einen dicken Wollmantel über, musterte sich im Spiegel und wollte eben ihre Aktentasche, ihre Schlüssel und ihren Schal zur Hand nehmen, als sie sich anders besann und wieder hinaufging. Sie traf ihn genauso an, wie sie es sich vorgestellt hatte: Mit

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