Amsterdam
Freitag, war der Tag der Veröffentlichung. Ein Bild sparten sie sich [120] für Montag auf, um die Story am Leben zu erhalten. Und die Story war prall vor Leben, sie warf die Beine hoch und lief Vernon davon. Seit die einstweilige Verfügung aufgehoben worden war, hatte der Judge die Garmony-Geschichte tagelang verfolgt, hatte die Neugier der Öffentlichkeit geweckt und gereizt, so daß Fotos, die niemand je zu Gesicht bekommen hatte, zu Ikonen der politischen Kultur geworden waren, Gegenstand allgemeiner Erörterungen vom Parlament bis zum Pub, ein Thema, zu dem keine Meinung zu haben kein wichtiger Akteur sich leisten konnte. Das Blatt hatte über die Auseinandersetzungen vor Gericht berichtet, über die eisige Unterstützung befreundeter Kabinettskollegen, das Schwanken des Premierministers, die »tiefe Sorge« führender Vertreter der Opposition und die nachdenklichen Betrachtungen der Hochmögenden und Aufrechten. Der Judge hatte seine Seiten Leuten, die sich über die Veröffentlichung empörten, für Angriffe zur Verfügung gestellt und eine im Fernsehen übertragene Debatte über die Notwendigkeit eines Gesetzes zum Schutz der Privatsphäre gesponsert.
Trotz dieser abweichenden Stimmen kristallisierte sich ein breiter Konsens heraus, wonach der Judge ein anständiges Blatt voller Kampfgeist war, die Regierung zu lange an der Macht, finanziell, moralisch und sexuell korrupt und Julian Garmony typisch für sie – ein verabscheuungswürdiges Geschöpf, dessen Kopf unbedingt rollen mußte. Binnen einer Woche stieg die Auflage um einhunderttausend, und der Chefredakteur stellte fest, daß er nicht gegen Einwände, sondern gegen das Schweigen seiner Ressortleiter anredete; insgeheim wollten sie alle, daß er die Sache [121] durchzog, solange ihr prinzipienfester Dissens ins Protokoll aufgenommen wurde. Vernon gewann den Streit, weil jeder, noch so kleine Reporter eingeschlossen, begriff, daß sie beides haben konnten – eine gerettete Zeitung und ein reines Gewissen.
Er streckte sich, erschauerte, gähnte. Bis zur ersten Besprechung waren es noch fünfundsiebzig Minuten, und bald würde er aufstehen, um sich zu rasieren und zu duschen, aber jetzt noch nicht, nicht solange er den einzigen friedvollen Augenblick des Tages festzuhalten suchte. Sein nackter Körper auf dem Laken, das mutwillige Gewirr des Bettzeugs um seine Knöchel und der Anblick der eigenen Genitalien, in seinem Alter noch nicht ganz von seiner Wampe verdeckt, jagten wie ferne Sommerwolken unbestimmte sexuelle Vorstellungen über seinen geistigen Horizont. Aber Mandy würde jeden Augenblick aus dem Haus gehen, und Dana, seine neueste Freundin, die im Unterhaus arbeitete, hielt sich bis Dienstag im Ausland auf. Er wälzte sich auf die Seite und überlegte, ob er sich dazu aufraffen sollte zu onanieren, ob es nützlich wäre, für die anstehenden Aufgaben einen klaren Kopf zu haben. Geistesabwesend streichelte er sich ein paarmal, dann gab er auf. In letzter Zeit schien es ihm an Hingabe, an geistiger Klarheit oder Leere zu mangeln, und die Handlung selbst kam ihm seltsam antiquiert und unwahrscheinlich vor, so als wollte man ein Feuer entfachen, indem man zwei Stöcke aneinanderrieb.
Außerdem gab es in Vernons Leben neuerdings so vieles zu bedenken, so viele Kitzel in der Welt dort draußen, daß die bloße Phantasie kaum mithalten konnte. Was er gesagt [122] hatte, was er sagen würde, wie es aufgenommen wurde, der nächste Schritt, die weitreichenden Auswirkungen des Erfolgs… Die Woche hatte eine solche Eigendynamik entwickelt, daß sich Vernon so gut wie stündlich neue Aspekte seiner Macht und seines Potentials erschlossen, und je mehr Resultate er mit seiner Überredungskunst und seinem planerischen Talent erzielte, desto bedeutender und wohltätiger kam er sich vor, vielleicht ein wenig rücksichtslos, letztendlich aber gut. Er war imstande, gegen den Strom zu schwimmen, er überragte seine Zeitgenossen, er wußte, daß er kurz davor stand, die Geschicke seines Landes zu bestimmen, und daß er die Verantwortung dafür durchaus tragen konnte. Nicht nur tragen konnte – er bedurfte dieser Bürde, seine Gaben bedurften dieser Bürde, die kein anderer auf sich nehmen konnte. Wer sonst hätte so entschieden durchgreifen können, als George seine wahre Identität hinter einem Strohmann versteckte und die Bilder anonym auf dem freien Markt offerierte? Acht weitere Zeitungen machten Gebote, und Vernon mußte das Vierfache des
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