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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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ausgestreckten Armen auf dem Rücken liegend, döste er vor sich hin. Der Tee kühlte neben [117]  einem Aktenstoß aus dem Ministerium ab. Wegen der Krise und wegen der Fotos, die morgen veröffentlicht werden sollten, hatten sie in der letzten Woche überhaupt keine Zeit gehabt, nicht einmal einen Augenblick, in dem sie ihre Patienten mit ihm hätte besprechen können oder wollen, und obwohl sie wußte, daß das Geschick des geschulten Politikers unter anderem darin bestand, sich an Namen zu erinnern, war sie gerührt, daß er ihn sich eingeprägt hatte. Sie tippte ihn an und flüsterte: »Julian.«
    »O Gott«, sagte er, ohne die Augen aufzuschlagen. »Die erste Arbeitsbesprechung ist um halb neun. Ich muß an diesen Vipern vorbei.«
    Sie sprach in dem Tonfall, in dem sie verzweifelte Eltern zu beruhigen suchte; langsam, unbeschwert, eher munter denn ernst. »Glaub mir, es wird schon alles werden.«
    Ganz und gar nicht überzeugt lächelte er ihr zu. Sie beugte sich zu ihm und wisperte ihm ins Ohr: »Vertraue mir.«
    Unten musterte sie sich nochmals im Spiegel. Sie knöpfte ihren Mantel ganz zu und legte den Schal so um, daß ihr Gesicht zur Hälfte verdeckt war. Sie hob ihre Aktentasche auf und trat aus der Wohnung. Unten im Treppenhaus blieb sie, die Hand auf dem Schloß, vor der Eingangstür stehen und nahm all ihren Mut zusammen, um sie zu öffnen und auf ihr Auto loszustürzen.
    »He! Rosy! Hierher! Nun schauen Sie doch mal ein bißchen traurig drein, Mrs.   Garmony.«

[118]  2
    Fünf Kilometer weiter westlich wachte Vernon Halliday etwa zur gleichen Zeit aus Träumen auf, in die er gleich wieder versank, aus Träumen, in denen er rannte, aus Erinnerungen, in denen er rannte, die durch das Traumartige noch intensiviert wurden, aus Traumerinnerungen, in denen er mit verstaubtem rotem Teppich ausgelegte Korridore entlangrannte auf einen Sitzungssaal zu, verspätet, schon wieder verspätet, so verspätet, daß es wie Geringschätzung wirken mußte. Er rannte von seiner letzten Sitzung zu dieser (vor dem Mittagessen mußte er noch sieben weitere durchstehen), äußerlich im Schrittempo, innerlich wie ein Sprinter, die ganze Woche lang. Er mußte seine Argumente vor den wütenden Grammatikern darlegen, danach vor dem skeptischen Herausgebergremium des Judge, vor der Belegschaft, vor den Anwälten der Zeitung und seinen eigenen, anschließend vor George Lanes Leuten und dem Presserat, in einer Livesendung vor Fernsehzuschauern und in ungezählten, undenkwürdigen und ungelüfteten Rundfunkstudios. Ähnlich wie Clive gegenüber machte Vernon das öffentliche Interesse an einer Verbreitung der Fotos geltend, aber geschmeidiger, ausführlicher und temporeicher, nachdrücklicher, bestimmter und mit Hilfe zahlreicher Beispiele, Kreis- und Flußdiagramme, Tabellenkalkulationen und beruhigender Präzedenzfälle. Doch meistens rannte er, [119]  sich waghalsig durch überfüllte Straßen schlängelnd, auf Taxis zu, aus den Taxis wieder heraus durch marmorne Foyers in Fahrstühle hinein und aus den Fahrstühlen heraus durch Korridore, die zu seinem Leidwesen steil anstiegen und dafür sorgten, daß er langsamer wurde und sich noch mehr verspätete. Vorübergehend wachte er auf und bemerkte, daß Mandy, seine Frau, bereits aufgestanden war, dann fielen ihm die Augen wieder zu, und er war wieder mittendrin, hielt seine Aktenmappe hoch, als er durch Wasser watete, durch Blut oder durch Tränen, die über einen roten Teppich strömten, der ihn zu einem Amphitheater brachte, wo er ein Podium erklomm, um seinen Fall vorzutragen. Ringsum waltete eine wie ein dunkler Tannenwald aufragende Stille, und in der Finsternis glommen Dutzende abgewandter Augenpaare, und jemand schritt durch das Zirkussägemehl davon, der aussah wie Molly, auf seine Rufe indes nicht antwortete.
    Endlich erwachte er, umgeben von den friedlichen Geräuschen des Morgens – Vogelgesang, das ferne Radio in der Küche, das leise Klicken einer Kleiderschranktür. Er schob die Bettdecke weg, blieb nackt auf dem Rücken liegen und spürte, wie die zentralgeheizte Luft den Angstschweiß auf seiner Brust trocknete. Seine Träume waren nichts weiter als der kaleidoskopisch gebrochene Anblick seiner Arbeitswoche, eine faire Beurteilung ihres Tempos und ihrer emotionalen Anforderungen. Doch mit der achtlosen Voreingenommenheit des Unbewußten ließen sie seine Strategie unberücksichtigt, jenes Grundprinzip, dessen Logik ihn vor dem Wahnsinn bewahrte. Morgen,

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