Amsterdam
alles.«
Sie zog die Fotos heraus und hielt das erste so hin, daß jeder es sehen konnte. Es war die Laufstegpose, es war Vernons Titelseite. Wackelnd fuhr die Kamera näher heran, und hinter der Absperrung gab es ein Gebrüll und ein Gerempel. Mrs. Garmony wartete, bis der Tumult sich gelegt hatte. Dann sagte sie gelassen, sie wisse, daß eine Zeitung in Verfolgung eigener politischer Absichten vorhabe, dieses und andere Fotos am nächsten Tag zu veröffentlichen in der Erwartung, ihren Mann damit aus dem Amt jagen zu können. Sie habe nur dies zu sagen: Die Zeitung werde ihr Ziel nicht erreichen, denn Liebe sei stärker als Haß.
[150] Das Absperrband war gerissen, und die Journalisten drängten nach vorn. Hinter dem Gatter hatten die Kinder sich beim Vater eingehakt, während ihre Mutter, ungeachtet der Mikrophone, die ihr ins Gesicht gehalten wurden, keinen Zollbreit vor dem lärmenden Haufen zurückwich. Vernon war von seinem Stuhl aufgesprungen. Nein, sagte Mrs. Garmony, und sie sei froh, ein für allemal klarstellen zu können, daß das Gerücht jeglicher Grundlage entbehre. Molly Lane sei nichts weiter als eine Freundin der Familie, und die Garmonys würden ihr stets ein zärtliches Andenken bewahren. Vernon hatte gerade sein Büro durchquert, um das Gerät auszuschalten, als die Chirurgin gefragt wurde, ob sie für den Chefredakteur des Judge eine besondere Mitteilung habe. Ja, sagte sie, und dann blickte sie ihn an, und er blieb wie angewurzelt vor dem Bildschirm stehen.
»Mr. Halliday, Sie haben die Denkungsart eines Erpressers und das moralische Format eines Flohs. «
Vernon stöhnte auf vor schmerzhafter Bewunderung, denn von griffigen Wendungen verstand er nun wirklich etwas. Die Frage war abgesprochen, die Antwort vorformuliert. Was für eine vollendete künstlerische Leistung!
Sie wollte noch mehr sagen, aber er vermochte die Hand zu heben und den Apparat auszuschalten.
[151] 5
Gegen fünf Uhr nachmittags kam es den vielen Chefredakteuren, die für Mollys Fotos mitgeboten hatten, in den Sinn, daß Vernons Blatt mit den gewandelten Zeiten nicht Schritt gehalten hatte. Wie der Leitartikelschreiber eines Qualitätsblatts seinen Lesern am Freitag morgen darlegte: »Es scheint der Aufmerksamkeit des Chefredakteurs des Judge entgangen zu sein, daß sich das Jahrzehnt, in dem wir leben, von dem vorhergehenden unterscheidet. Damals hieß das Schlagwort ›das eigene Fortkommen‹, während die krasse Wirklichkeit aus Gier und Heuchelei bestand. Heute leben wir in einem vernünftigeren, mitfühlenderen und toleranteren Zeitalter, in dem die harmlosen privaten Vorlieben von Einzelpersonen, auch wenn sie dem öffentlichen Leben angehören, deren eigene Angelegenheit bleiben. Wo es kein erkennbares öffentliches Interesse gibt, ist für die altmodischen Tricks des Erpressers und des selbstgerechten Denunzianten kein Platz. Obgleich diese Zeitung das moralische Feingefühl des gemeinen Flohs nicht in Zweifel ziehen möchte, kann sie sich doch den gestern gemachten Bemerkungen nur anschließen…« usw.
Auf den Titelseiten hielten sich die Schlagzeilen »Erpresser« und »Floh« im großen und ganzen die Waage, und die meisten Zeitungen verwendeten ein auf einem Bankett des Presseverbands aufgenommenes Foto, das einen leicht [152] angesäuselten Vernon in zerknautschtem Smoking zeigte. Am Freitag nachmittag marschierten zweitausend Mitglieder der Allianz von Schwulen und Transvestiten, teils in Stöckelschuhen, zum Redaktionsgebäude des Judge, hielten Exemplare der in Ungnade gefallenen Titelseite in die Höhe und stimmten mit Falsettstimmen höhnische Sprechchöre an. Etwa zu derselben Zeit ergriff die Regierungsfraktion im Parlament die Gelegenheit beim Schopf und sprach dem Außenminister mit überwältigender Mehrheit das Vertrauen aus. Mit einemmal fühlte sich der Premierminister ermutigt, für seinen alten Freund einzutreten. Übers Wochenende kristallisierte sich ein breiter Konsens heraus, wonach der Judge – ein widerwärtiges Blatt – zu weit gegangen, Julian Garmony ein anständiger Kerl und Vernon Halliday (»der Floh«) ein verabscheuungswürdiges Geschöpf war, dessen Kopf unbedingt rollen mußte. Auf den Lifestyle-Seiten der Sonntagszeitungen wurde »die neue, fürsorgliche Ehegattin« präsentiert, die ihre eigene Karriere verfolgte und zugleich ihrem Mann aus der Patsche half. Die Leitartikel konzentrierten sich auf die wenigen bis dahin vernachlässigten Aspekte der Rede
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