Amsterdam
hegte – seit seiner Rückkehr aus dem Lake District war ihm dies drei- oder viermal widerfahren –, wurde die Welt groß und still, und im graublauen Licht eines Märzenmorgens nahmen sein Flügel, der MIDI -Computer, die Teller und Tassen, Mollys Lehnsessel ein gemeißeltes, gerundetes Aussehen an und erinnerten ihn daran, wie die Dinge früher einmal auf ihn gewirkt hatten, in seiner Jugend, als er Meskalin nahm: aufgebläht und von wohlwollender Bedeutsamkeit. Und er sah das Atelier, das er nun gleich zugunsten seines Bettes sich selbst überlassen würde, wie es sich in einem Dokumentarfilm über ihn ausnehmen mochte, in dem einer neugierigen Welt der Entstehungsprozeß eines Meisterwerks enthüllt wurde. Er sah auch die grobkörnige Kehrseite, jene an der Tür zögernde Gestalt in einem schmuddeligen, losen, weißen Hemd, in Jeans, die über dem gewölbten Bauch spannten, mit Ringen unter den vor Müdigkeit geschwollenen Augen: der Komponist, heroisch und liebenswert in seiner stoppelbärtigen Schlampigkeit. Dies waren die wahrhaft großen Momente während einer Zeit freudiger schöpferischer Produktivität, wie er sie noch nie erlebt hatte, jene Momente, da er in einer nahezu halluzinierenden Verfassung von der Arbeit aufstand, die Treppe in sein Schlafzimmer hinunterschwebte, seine Schuhe abstreifte, unter die Bettdecke kroch und sich einem traumlosen Schlaf hingab, der eine matte Benommenheit, eine Leere, ein Tod war.
Am späten Nachmittag wachte er auf, zog sich die Schuhe an und ging hinunter in die Küche, um von der kalten Platte zu essen, die die Haushälterin ihm hingestellt hatte. Er öffnete eine Flasche Wein und nahm sie mit nach oben [161] ins Atelier, wo er eine volle Thermoskanne Kaffee vorfand und eine neuerliche Reise in die Nacht antrat. Irgendwo in seinem Rücken befand sich der Abgabetermin, wie ein Tier schlich er sich an und rückte ihm immer näher auf die Pelle. In wenig mehr als einer Woche mußte er in Amsterdam Giulio Bo und dem Britischen Sinfonieorchester gegenübertreten – zwei Tage Probe und zwei Tage danach die Uraufführung in der Birmingham Free Trade Hall. Wenn man bedachte, daß es noch Jahre hin war bis zum Ende des Jahrtausends, war der Druck ziemlich lächerlich. Die Reinschrift der ersten drei Sätze hatte man Clive bereits aus den Händen gerissen, und die Orchesterstimmen waren herausgeschrieben. Seine Sekretärin war einige Male vorbeigekommen, um die letzten Seiten des Finalsatzes abzuholen, und ein ganzes Team von Kopisten hatte sich an die Arbeit gemacht. Jetzt gab es kein Zurück mehr, und er konnte nur vorwärtsmachen und hoffen, vor nächster Woche fertig zu sein. Er klagte, doch im Grunde seines Herzens schadete ihm der Druck nichts, denn er konnte gar nicht anders arbeiten, als sich in der gewaltigen Anstrengung zu verlieren, die es bedeutete, dieses Werk zu seinem ehrfurchtgebietenden Abschluß zu bringen. Die alten Steinstufen waren erstiegen, die hauchdünnen Klänge wie Nebelschleier zerrissen, seine neue Melodie, in ihrer ersten einsamen Erscheinungsform düster für Posaune mit Dämpfer gesetzt, hatte reiche Orchesterfarben geschmeidiger Harmonien um sich geschart, danach Dissonanzen und wirbelnde Variationen, die sich auf Nimmerwiedersehen im Raum verloren, hatte sich in einem Prozeß der Konsolidierung zu ihrem Höhepunkt hochgeschraubt, wie eine rückwärts [162] geschaute Explosion, die zu einem geometrischen Punkt der Stille zusammensinkt; dann wieder die Posaune mit Dämpfer, und daraufhin, in sanftem Crescendo, wie ein Riese, der Atem holt, die kolossale abschließende Wiederaufnahme der Melodie (auf betörende, wenn auch noch nicht ganz gelöste Art und Weise abgewandelt), die sich steigerte und steigerte und eine Woge auslöste, einen jagenden Tsunami aus Klang, der ein unglaubliches Tempo erreichte, sich dann höher aufbäumte und, als jedes menschliche Fassungsvermögen schon überschritten schien, noch höher, und endlich wankte, sich brach und schwindelerregend zusammenschlug, um endlich auf dem festen, sicheren Boden der Grundtonart c-Moll zu zerschellen. Was blieb, war der Orgelpunkt, der eine friedliche Lösung im unendlichen Raum verhieß. Dann ein Diminuendo, das fünfundvierzig Sekunden umfaßte und sich in vier in der Partitur festgehaltene Takte Stille auflöste. Das Ende.
Und es war fast vollbracht. In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag überarbeitete und vervollkommnete Clive das Diminuendo. Jetzt kam es nur noch
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