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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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darauf an, in der Partitur mehrere Seiten zurückzugehen bis zu der lautstarken Wiederaufnahme des Themas und die Harmonien oder vielleicht sogar die Melodie selbst abzuändern oder sich eine Art rhythmischen Sog auszudenken, eine Synkopierung, die die Wirkung der Melodietöne beschnitt. Für Clive war diese Variation zum entscheidenden Bestandteil des Schlusses geworden; sie mußte die Nichterkennbarkeit der Zukunft suggerieren. Wenn die inzwischen vertraute Melodie zum allerletzten Mal wiederkehrte, geringfügig, aber bedeutsam verändert, mußte sie in den Zuhörern ein Gefühl [163]  der Unsicherheit auslösen; eine Mahnung, sich nicht zu sehr an das zu klammern, was wir wissen.
    Am Donnerstag morgen lag er im Bett, dachte darüber nach und war gerade am Einschlafen, als – wie beruhigend! – Vernon anrief. Seit seiner Rückkehr hatte Clive vorgehabt, sich mit Vernon in Verbindung zu setzen, doch seine Arbeit hatte ihn ganz in Anspruch genommen, und Garmony, die Fotos und der Judge kamen ihm vor wie Nebenhandlungen in einem Film, an den er sich kaum noch erinnern konnte. Er wußte lediglich, daß er mit niemandem Streit haben wollte, am allerwenigsten mit einem seiner ältesten Freunde. Als Vernon ihm das Wort abschnitt und vorschlug, am kommenden Abend auf ein Gläschen vorbeizukommen, hatte Clive sich gerade überlegt, daß er bis dahin fertig sein würde. Bis dahin hätte er die entscheidende Veränderung der Themengestalt eingetragen, denn länger als eine nächtliche Sitzung würde das bestimmt nicht in Anspruch nehmen. Die letzten Seiten wären fortgeschafft, und zur Feier des Tages könnte er ein paar Freunde zu sich bitten. Diese angenehmen Gedanken begleiteten ihn in den Schlaf. Er war verwirrt, als er, wie ihm schien, nach nur zwei Minuten schon wieder aufgeschreckt wurde und Vernons herrisches Verhör über sich ergehen lassen mußte.
    »Ich will, daß du auf der Stelle zur Polizei gehst und meldest, was du gesehen hast.«
    Dies war der Satz, der Clive jählings mit der Wahrheit konfrontierte. Aus einem Tunnel trat er ins Licht. Ihm fiel die Zugfahrt nach Penrith wieder ein, seine halbvergessenen Einsichten und deren bitterer Nachgeschmack. Jede Entgegnung war wie das Schlagen einer Ratsche – kein [164]  Abgleiten in Höflichkeit mehr. Indem er Molly heraufbeschwor – »Ich meine deine Bereitschaft, auf Mollys Grab zu scheißen…« –, ließ Clive sich von einer Sturzflut hitziger Empörung übermannen, und als Vernon ihm schändlicherweise damit drohte, selbst zur Polizei gehen zu wollen, stöhnte Clive auf, schleuderte die Bettlaken von sich und stellte sich für den bevorstehenden Austausch von Beleidigungen in Socken neben den Nachttisch. Als er eben auflegen wollte, hatte Vernon bereits seinerseits eingehängt. Ohne sich die Schuhe zuzubinden, stürzte Clive unter wütenden Flüchen nach unten. Es war noch nicht fünf Uhr, aber er benötigte einen Drink, er hatte einen Drink verdient, und wer ihn daran zu hindern versuchte, dem würde er eine reinhauen. Aber natürlich war er allein, Gott sei Dank. Es war ein Gin-Tonic, mehr Gin als Tonic, und er stellte sich vor den Ausguß, stürzte ihn ohne Eis oder Zitrone hinunter und dachte verbittert an die Ungeheuerlichkeit. Diese Ungeheuerlichkeit ! In Gedanken entwarf er einen Brief, den er diesem Dreckskerl schicken würde, den er fälschlich für einen Freund gehalten hatte. Dieser Kerl mit seiner widerlichen Routine, seinem gemeinen, intriganten Zynismus, dieser Schmeichler, Schmarotzer, Heuchler, dieser passiv Aggressive! Halliday hieße mit Vornamen besser nicht Vernon, sondern Vermin, wie das Ungeziefer, der wußte überhaupt nicht, was es hieß, schöpferisch tätig zu sein, weil er in seinem ganzen Leben noch nichts Gutes geschaffen hatte und von Haß auf diejenigen verzehrt wurde, die es vermochten. Seine Zimperlichkeit, die des kleinkarierten Vorstädters, hielt er für einen moralischen Standpunkt, dabei steckte er bis zu den Ellbogen in Scheiße, und [165]  wie, er hatte sein Zelt auf Exkrementen aufgeschlagen, und um seiner nichtswürdigen Interessen willen scheute er nicht davor zurück, Mollys Andenken zu schänden, einen wehrlosen Narren wie Garmony ins Verderben zu stürzen, sich der Haßparolen der Sensationspresse zu bedienen und sich bei alledem einzubilden und jedem, der es hören wollte, zu erzählen – und das verschlug einem nun wirklich den Atem –, daß er lediglich seine Pflicht tue und im Dienste eines hohen

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