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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Ideals stehe. Er war verrückt, er war pervers, er verdiente es nicht zu leben!
    Diese Verwünschungen, die er in der Küche ausstieß, nötigten Clive zu einem zweiten Glas, danach zu einem dritten. Aus langjähriger Erfahrung wußte er, daß ein im Zorn geschriebener Brief dem Feind nur eine Waffe in die Hand gab. Konserviertes Gift, das in ferner Zukunft gegen den Absender verwendet werden konnte. Aber gerade weil ihm in einer Woche nicht mehr soviel daran liegen würde, wollte Clive jetzt etwas schreiben. Sein Kompromiß bestand in einer knapp gehaltenen Postkarte, die er einen Tag lang liegenlassen würde, bevor er sie einwarf. Deine Drohung entsetzt mich. Dein Journalismus ebenso. Du verdienst es, entlassen zu werden. Clive. Er öffnete eine Flasche Chablis und ging, ohne Notiz von dem saumon en croûte im Kühlschrank zu nehmen, ins oberste Stockwerk, kampflustig entschlossen, mit der Arbeit zu beginnen. Es würde eine Zeit kommen, da von Vermin Halliday nichts bleiben würde, doch Clive Linleys Musik würde in alle Ewigkeit bleiben. Arbeit, ruhige, entschlossene, triumphale Arbeit, wäre also eine Art Rache. Doch wenn es darum ging, sich zu konzentrieren, war Kampfeslust kein guter [166]  Ratgeber, ebensowenig drei Gin und eine Flasche Wein, und drei Stunden später starrte er immer noch, zusammengekauert, den Bleistift in der Hand, die Stirn zerfurcht, auf die Partitur am Flügel, doch was er da hörte und sah, war nur das bunte Drehorgelkarussell seiner durcheinanderwirbelnden Gedanken und die immergleichen harten, aufgezäumten Pferdchen, die an ihren Stangen auf und nieder tanzten. Jetzt kamen sie schon wieder an. So eine Ungeheuerlichkeit! Die Polizei! Arme Molly! Scheinheiliger Scheißkerl! Arschloch! Und das nennst du einen moralischen Standpunkt? Bis zum Hals in der Scheiße! So eine Unverschämtheit ! Und was war mit Molly…?
    Um halb zehn stand er auf und beschloß, sich zusammenzureißen, etwas Rotwein zu trinken und mit der Arbeit fortzufahren. Hier, ausgebreitet auf dem Notenblatt, war sein schönes Thema, sein Lied, und heischte seine Aufmerksamkeit, bedurfte nur einer zündenden Veränderung, und hier war er, von gebündelter Tatkraft erfüllt, bereit, es zu Papier zu bringen. Doch unten in der Küche hielt er sich mit seinem wiedergefundenen Abendessen auf und hörte sich im Radio eine Sendung über das Nomadenvolk der Tuareg in Marokko an. Dann nahm er sein drittes Glas Bandol in die Hand und wanderte im Haus umher, ein Anthropologe auf der Suche nach der eigenen Existenz. Seit einer Woche hatte er sich nicht mehr im Wohnzimmer aufgehalten, und jetzt irrte er durch den riesigen Raum und betrachtete Gemälde und Fotografien wie zum ersten Mal, fuhr mit der Hand über die Möbelstücke und nahm irgendwelche Gegenstände vom Kaminsims. Sein ganzes Leben war hier aufbewahrt, und was für eine reiche Geschichte! [167]  Das Geld zum Ankauf selbst der preiswertesten Gegenstände hatte Clive sich verdient, indem er sich Klänge ausdachte, indem er eine Note auf die andere folgen ließ. Alles hatte er hier ersonnen, alles hatte er hier ins Leben gerufen, ohne irgendwelche Hilfe. Und er trank, in einem Zug, auf seinen Erfolg und kehrte in die Küche zurück, um sich nachzugießen, bevor er das Eßzimmer erkundete. Um halb zwölf saß er wieder vor seiner Partitur, deren Noten nicht mehr stillhielten, selbst ihm zu Gefallen nicht, und er mußte sich eingestehen, daß er ernstlich betrunken war, und wer wäre das nicht nach solchen Verrätereien? Auf einem Bücherregal stand eine halbe Flasche Scotch, die er zu Mollys Lehnsessel mitnahm. Und im CD -Player lag schon ein Ravel. Seine letzte Erinnerung an den Abend war die, daß er die Fernbedienung hob und auf den CD -Player richtete.
    Er erwachte in den frühen Morgenstunden, der Kopfhörer war ihm ins Gesicht gerutscht, und von seinem Traum, in dem er, den einzigen Konzertflügel der Tuareg auf dem Rücken, auf Händen und Knien eine Wüste durchquerte, hatte er einen entsetzlichen Durst. Im Badezimmer trank er Leitungswasser, dann legte er sich wieder zu Bett und blieb stundenlang im Dunkeln dort liegen, mit offenen Augen, ausgedörrt und hellwach, und wieder war er machtlos dem Gedankenkarussell in seinem Kopf ausgeliefert. Bis zum Hals in der Scheiße? Moralischer Standpunkt? Molly?
    Als er am Vormittag aus einem kurzen Schlummer erwachte, wußte er, daß der Ansturm, die schöpferische Phase, zu Ende war. Es lag nicht nur daran, daß er müde und

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