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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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verkatert war. Sobald er sich an den Flügel setzte und sich der Variation auf immer wieder andere Weise anzunähern [168]  versuchte, mußte er feststellen, daß nicht nur diese Stelle, sondern der ganze Satz dahin war – plötzlich war er Asche in seinem Mund. Er wagte es nicht, allzu genau über die Sinfonie selbst nachzudenken. Als seine Sekretärin anrief, um die Übergabe der letzten Seiten zu arrangieren, hängte er einfach ein und mußte sie zurückrufen, um sich zu entschuldigen. Er machte einen Spaziergang, um einen klaren Kopf zu bekommen und die Karte an Vernon einzuwerfen, die sich inzwischen wie ein Meisterwerk an Zurückhaltung las. Auf dem Weg kaufte er ein Exemplar des Judge ; um sich konzentrieren zu können, hatte er sich Zeitungen oder Fernseh- und Radionachrichten versagt. Insofern waren ihm die Vorankündigungen entgangen.
    So war es denn ein Schock, als er zu Hause die Zeitung auf dem Küchentisch ausbreitete. Garmony posierte vor Molly, legte sich tuntenhaft vor ihr ins Zeug, und in ihren warmen Händen hielt sie die Kamera, ihr lebendiger Blick hatte umfangen, was Clive jetzt erblickte. Aber die Titelseite war eine Peinlichkeit, nicht oder nicht nur, weil ein Mann in einem heiklen Augenblick der Intimität ertappt worden war, sondern weil die Zeitung deswegen so außer sich geraten war und so gewaltige Ressourcen eingesetzt hatte. Als sei eine kriminelle politische Verschwörung aufgedeckt oder unter einem Tisch im Außenministerium eine Leiche aufgefunden worden. So wenig weltgewandt, so falsch beurteilt, so dümmlich. Und auch die Art, wie sie sich jede erdenkliche Mühe gab, grausam zu sein, war unangebracht. Die überdeutliche, geringschätzige Karikatur etwa oder der frohlockende Leitartikel mit seinem kindischen Wortspiel zu »Wechselbalg«, der billigen, auf Applaus [169]  bedachten Formulierung »sich ins Hemd machen« und dem schwächlichen Gegensatz zwischen »sich herausputzen« und »herunterputzen«. Wieder kam ihm der Gedanke: Vernon war nicht nur verabscheuenswürdig, er war ganz offenkundig verrückt. Und dafür verabscheute Clive ihn erst recht.
    Der Kater dauerte das ganze Wochenende über an, bis Montag – mittlerweile kam er nicht mehr so leicht davon –, und Clives allgemeine Übelkeit bot den angemessenen Hintergrund für verbitterte Grübeleien. Die Arbeit ging nicht voran. Was eine saftige Frucht gewesen war, war nur noch ein verdorrter Zweig. Die Kopisten warteten verzweifelt auf die letzten zwölf Blätter der Partitur. Der geschäftsführende Leiter des Orchesters rief dreimal an, seine Stimme zitterte vor unterdrückter Furcht. Das Concertgebouw sei von kommendem Freitag an zu ungeheuren Kosten für eine zweitägige Probe gebucht worden, die zusätzlichen Schlagzeuger, um die Clive gebeten hatte, seien bereits engagiert, ebenso wie der Akkordeonspieler. Giulio Bo warte ungeduldig auf den Schluß des Werkes, und in Birmingham seien bereits sämtliche Vorbereitungen getroffen. Wenn die vollständigen Orchesterstimmen nicht bis Donnerstag in Amsterdam vorlägen, bleibe ihm, dem Geschäftsleiter, keine andere Wahl, als sich im nächsten Kanal zu ertränken. Es wirkte beruhigend, sich größerer Angst als der eigenen gegenüberzusehen, doch Clive weigerte sich immer noch, die Seiten aus der Hand zu geben. Er harrte der so wichtigen Variation, und wie es so geht, schien es ihm allmählich, als hänge von ihr die Integrität des gesamten Werkes ab.
    [170]  Dies war natürlich eine ruinöse Auffassung. Wenn er jetzt das Atelier betrat, bedrückte ihn dessen verwahrloster Zustand, und wenn er vor seinem Manuskript saß – der Handschrift eines jüngeren, zuversichtlicheren und begabteren Mannes –, schob er Vernon die Schuld dafür zu, daß er nicht arbeiten konnte, und seine Wut verdoppelte sich. Seine Konzentration war ein für allemal dahin. Wegen eines Idioten. Es begann sich abzuzeichnen, daß ihm sein Meisterwerk, der Gipfelpunkt seines Lebenswerks, versagt bleiben sollte. Diese Sinfonie hätte sein Publikum gelehrt, wie man sich alles andere, das er je geschrieben hatte, anhören, wie man es hören mußte. Doch die Gelegenheit, sein Genie unter Beweis zu stellen, seine Größe zu besiegeln, war dahin. Clive wußte, daß er sich nie wieder an einer Komposition dieses Umfangs versuchen würde; er war zu erschöpft, zu ausgelaugt, zu alt. Am Sonntag trieb er sich im Wohnzimmer herum und las wie benommen die verbleibenden Artikel in der Freitagsausgabe des

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