Amy on the summer road
ging auf, und eine Mutter kam herein, die ihre kleine Tochter zum Waschbecken dirigierte. Sie musterte mich kurz und schaute dann schnell beiseite. Natürlich war es auch keine Lösung, sich den ganzen Tag im Waschraum zu verstecken – so verlockend diese Option auch sein mochte. Deshalb stieß ich die Tür wieder auf und stolperte dabei fast über Roger, der rechts daneben auf dem Fußboden saß.
»Hey«, sagte er und stand auf. Ich sah, dass er meine Handtasche bei sich hatte. »Äh, die hast du draußen vergessen.«
Nickend nahm ich sie entgegen und starrte auf den graubraunen Teppichboden. »Danke«, sagte ich und hörte, dass
meine Stimme immer noch ganz heiser war. Aber zum Glück versagte sie mir jetzt nicht mehr.
»Alles okay?«, erkundigte er sich.
Da die Antwort ganz offensichtlich Nein war, wäre es sinnlos gewesen, ihm etwas vorzumachen. So gut konnte ich nun auch wieder nicht Theater spielen. Deshalb zuckte ich einfach nur die Schultern.
»Also«, sagte er und machte dann eine Pause. Als er weitersprach, rang er ganz offensichtlich um die richtigen Worte. »Wenn du irgendwie reden willst oder jemanden brauchst, der zuhört, ich meine, dann könnte ich ...«
»Woher hast du es denn erfahren?«, fragte ich ihn und sprach sehr hastig, um es möglichst schnell hinter mich zu bringen. »Von deiner Mutter? Oder von dem Programmzettel am Kühlschrank?« Ich konnte mich noch nicht überwinden aufzuschauen und richtete meine Fragen daher an den Teppich.
»Von meiner Mutter«, antwortete Roger nach einer Weile. »Ich glaube, sie war bei ... beim Trauergottesdienst.«
Kann gut sein. Aber sie hätte auf einem Elefanten in die St.-Andrews-Kirche reiten können, ohne dass ich mich daran auch nur ansatzweise erinnern würde. Ich nickte. »Weißt du ...« Ich holte tief Luft und zwang mich, es auszusprechen. Vermutlich wusste er es nicht. Aber ich wollte Klarheit haben. »Weißt du, wie es passiert ist?«
»Nein«, entgegnete er. »Magst du es mir erzählen?«
Ich schüttelte fast unmerklich den Kopf. Ich merkte, wie meine Lippen wieder zu beben begannen, und biss drauf, so heftig ich konnte.
»Tja«, sagte er kurz darauf. »Wir sollten wohl langsam mal losfahren, oder?«
Ich nickte. Als ich aufschaute, sah ich, dass Roger mir seine Sonnenbrille hinhielt. Ich kam gar nicht auf die Idee abzulehnen, sondern setzte sie einfach auf. Es war ein schweres, eckiges Jungsmodell – viel zu groß für mich – und verrutschte sofort. Aber im Moment war es eine hilfreiche Barriere zwischen meinem Gesicht und der Außenwelt, schon allein um nicht sämtliche Kinder im Yosemite völlig zu verschrecken. Wir wandten uns zum Gehen, und ich drehte mich noch einmal um, ehe ich zur Tür hinausging. Die Lodge kam mir jetzt überhaupt nicht mehr so anheimelnd vor wie noch am Morgen. Ich ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen und folgte Roger zum Auto.
Long-distance information,
give me Memphis, Tennessee.
– Elvis Presley
FEBRUAR – VIER MONATE ZUVOR
Mein Vater ließ seinen Blick von Charlie zu mir wandern. »Und? – Was sagt ihr?«, fragte er stolz.
Ich spähte erst zu Charlie quer über den Esstisch und dann nach links zu meinem Vater, der uns erwartungsfroh anstrahlte. Dann sah ich wieder auf das Geschenk vor mir, das ich soeben ausgewickelt hatte: einen Reiseführer durch Memphis, Tennessee. Ähnlich ratlos wie ich beäugte Charlie sein Geschenk in Gestalt eines Buches über die Geschichte des Blues.
Meine Mutter kam lächelnd mit ihrer Teetasse an den Tisch und schüttelte den Kopf. »Ich hab’s dir doch gesagt, Ben, das ist zu abseitig.« Ich hatte keinen Schimmer, was sie damit meinte. Im Gegensatz zu Charlie natürlich, wie immer.
»Es sind Hinweise «, sagte mein Vater, wobei ihm unsere lustlose Reaktion nicht im Mindesten den Spaß zu verderben schien, »auf unser Reiseziel diesen Sommer.«
Ich hielt mein Buch hoch. »Memphis, nehm ich mal an?«
»Ja«, bestätigte mein Vater übertrieben geduldig. »Aber nicht einfach irgendwo in Memphis ...«
Charlie verdrehte die Augen und ließ sein Buch sinken. »Graceland?«, fragte er und mein Vater nickte. Is nich wahr , hauchte Charlie lautlos in meine Richtung. Ich ignorierte ihn.
»Jawohl!« Mein Vater nahm mein Buch und ließ die Seiten durch seine Finger schnippen. »Ich hatte so an Juli gedacht. Also, befragt eure Kalender, ihr beiden. Wir werden dem King einen Besuch abstatten.«
Charlie schüttelte den Kopf und schob das
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