Amy on the summer road
hat sie mir auf die Mailbox gesprochen, dass es ihr leidtut, wie sie die Sache beendet hat. Ich sollte irgendwann im Haus ihrer Studentinnenverbindung vorbeikommen, damit wir uns richtig verabschieden könnten.«
»Und?«
»Ach so, na ja, ich bin nicht hingegangen«, antwortete Roger und wechselte die Fahrspur. »Ich verabschiede mich nie von jemandem. Das wusste sie ganz genau, weil ich es immer wieder gesagt hatte.«
Ich richtete mich ein Stück in meinem Sitz auf. »Du verabschiedest dich nie?«
»Nee«, erklärte er. »Seit ich elf bin, mach ich das nicht mehr. Bin da irgendwie abergläubisch«, fügte er hinzu. »Damals sind im selben Jahr drei meiner Großeltern gestorben – zack, zack, zack. Und jedes Mal hatte ich direkt davor noch mit ihnen gesprochen. Und zum Schluss – na, was wohl getan? Genau. Mich verabschiedet. Seitdem lass ich das lieber bleiben. Ist vielleicht albern. Aber der letzte Großelternteil, der mir noch geblieben ist, ist noch gesund und munter – schließlich habe ich ja seitdem den Unsinn auch gelassen. Na bitte.«
»Aber«, wandte ich ein, als Roger in die Abfahrt 143 Richtung Uintah Street/Colorado College einbog, »was hat denn das Verabschieden damit zu tun?«
»Na, alles!«, rief Roger, wobei ein Teil seiner sonstigen Energie in seine Stimme zurückkehrte. Die Umgebung wirkte jetzt weniger großstädtisch und ich konnte wieder die Berge sehen. Ich fand sie total beeindruckend. Die untergehende Sonne strahlte sie von hinten an, sodass ich eigentlich nur noch die Umrisse erkennen konnte. Aber sie sahen wirklich lila aus, genau wie sie in diesem Lied »America The Beautiful« beschrieben werden. Roger nahm eine Straße, die offenbar hier die Einkaufsmeile war – mit lauter Klamottenboutiquen, Pizzerien und Plattenläden. Angesichts der studentischen Atmosphäre hätte es genauso gut Raven Rock sein können, nur die Berge im Hintergrund sahen wesentlich majestätischer aus als in Kalifornien. »Bei einem Abschied trennt man sich doch von der Person und drückt damit
faktisch aus, dass man sie nicht wiedersehen wird. Man akzeptiert mehr oder weniger, dass es die letzte Unterhaltung war, die man mit demjenigen geführt hat. Wenn man es nicht ausspricht und das Gespräch bewusst offen enden lässt, dann bedeutet es, dass es ein Wiedersehen geben wird.« Ich starrte ihn sprachlos an. Roger sah zu mir herüber und lachte – diesmal klang sein Lachen ganz normal. »Ich weiß, das klingt ziemlich albern«, fügte er hinzu. »Aber ich hab mir das nun mal so angewöhnt.«
»Manchmal«, sagte ich und zwang mich weiterzureden, obwohl sich mein Hals dabei zuschnürte, »manchmal sieht man jemanden aber auch dann nie wieder, wenn man sich nicht verabschiedet hat. Das gibt es auch.«
»Ja, ich weiß«, sagte er leise, und an seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass er wusste, wovon ich sprach. »Sind wahrscheinlich nur meine Schuldgefühle wegen des Serienmordes an meinen Großeltern.«
Unwillkürlich musste ich lächeln. »Aber du hast doch deine Großeltern nicht umgebracht.«
»Ja, das weiß ich inzwischen natürlich. Aber versuch das mal, meinem elfjährigen Ich klarzumachen.«
Ich sah aus dem Fenster auf die immer dunkler werdenden violetten Berge und dachte über das Thema nach. Verabschiedungen waren mir längst nicht mehr so wichtig wie früher. Wenn man jemanden nie wieder sehen wird, dann ist bestimmt nicht der Abschied das Hauptproblem. Entscheidend ist die Tatsache, dass man mit demjenigen nie wieder reden kann. Man bleibt also ewig auf einem nicht beendeten Gespräch sitzen.
»Na ja«, sagte Roger und bog in eine Straße ein, in der kleine Häuser standen, von denen die meisten griechische Buchstaben an den Türen hatten, »tut mir leid, dass ich dir das alles so vor die Füße kippe. Ich hätte dir viel früher sagen müssen, weshalb ich herkommen wollte.«
»Ist schon okay«, antwortete ich.
Roger lächelte, fuhr rechts ran und parkte vor einem heruntergekommenen zweistöckigen Haus. Der weiße Anstrich blätterte ab und davor stand eine halb aufgeblasene Plastikpalme verloren auf der Wiese herum. »Willst du mal unsere Bleibe begutachten?«
Der Gemeinschaftsbereich im International House war fast verwaist, nur ein dürrer Typ mit freiem Oberkörper hing auf dem Sofa ab. Er hatte schwarze, hochgegelte Haare und war total vertieft in ein Computerspiel. Es spielte in einem Wald und der Held war eine deutlich attraktivere Ausgabe des Sofatypen.
»Hi,
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