Amy on the summer road
weg.
Selbst ohne die ganzen Klamottenstapel wäre das Zimmer winzig gewesen. Aber mit dem vielen Zeug überall bekam man geradezu Platzangst. Der Raum bestand im Wesentlichen aus dem Bett, einem klitzekleinen Stück Fußboden daneben und einem Schreibtisch mit naturwissenschaftlichen Lehrbüchern darauf und ringsherum. Über dem Schreibtisch hing eine Pinnwand, an der auch ein Foto von Roger hing. Ich trat näher heran, um es mir genauer anzusehen.
»Hallo, grüß dich!«
Ich drehte mich um und sah ein Mädchen im Eingang stehen. Sie hatte lange braune Haare mit einem Pony, der ihr
fast in die Augen hing. Von der Größe und Figur her ähnelten wir uns, obwohl sie vielleicht ein bisschen kurvenreicher war als ich. Da ihr Outfit ein ausgeprägtes Modebewusstsein erkennen ließ, nahm ich an, dass es sich um Bronwyn handelte. Genau wie ich trug sie Jeans und T-Shirt, aber das war auch schon alles an Gemeinsamkeiten. Sie hatte das gewisse Etwas, das mir auch schon an manchen meiner Mitschülerinnen aufgefallen war – die Fähigkeit, Sachen so zu kombinieren, dass es einfach stimmte und immer lässig und mühelos wirkte. Ihr weißes Shirt war figurbetont und saß trotzdem irgendwie locker. Um den Hals trug sie mehrere filigrane Goldkettchen übereinander, was perfekt zu ihren flachen goldfarbenen Ballerinas passte. Ich sah an mir herunter und stellte fest, dass auf meinem eigenen Oberteil ein Marmeladenfleck prangte, der vermutlich noch von dem Toast stammte, den ich zum Mittag gegessen hatte.
»Hi«, antwortete ich, steckte die Hände in die Taschen und hoffte, dass sie den Fleck nicht bemerken würde.
»Bist du Amy?«, fragte sie und musterte mich prüfend. Sie kam auf mich zu und schaffte es erstaunlicherweise, nicht auf herumliegende Kleidungsstücke oder Schuhe zu treten. Dabei sah sie mich mit einer Freundlichkeit an, die ich bisher nur bei Stewardessen erlebt hatte.
»Ja«, bestätigte ich und streckte ihr meine Hand entgegen, wobei mir zu spät einfiel, dass das unter Studenten vielleicht unüblich war. »Hallo.«
Sie beachtete meine Hand gar nicht, sondern kam noch einen Schritt näher und fiel mir um den Hals. Augenblicklich erstarrte ich, denn ich hatte schon sehr lange niemanden
mehr umarmt. Ein paar Leute hatten mich zwar zur Beerdigung mit Umarmungen bedacht, aber das war eher ein flüchtiges und mitfühlendes Rückentätscheln gewesen. Und nun wollte mich diese Person gar nicht wieder loslassen. Nach einer Weile versuchte ich, mich aus der Umklammerung zu lösen, aber statt loszulassen, hielt sie mich noch stärker fest. Es war ein seltsames Gefühl, denn obwohl sie genauso groß war wie ich, kam es mir vor, als würde mich jemand viel größeres umarmen. Ich spürte, wie in mir der Damm zu bröckeln anfing, den ich sorgfältig vor all dem aufgeschüttet hatte, an das ich lieber nicht denken wollte. Als ich das merkte, trat ich sofort einen Schritt zurück. Bronwyn tat das ebenfalls und lächelte mich an. »Es ist wirklich so toll, dich kennenzulernen«, sagte sie mit einem leichten Südstaatendialekt. Manche Worte hatten dabei ein paar mehr Silben, als ich es gewohnt war.
»Ich freue mich auch. Äh ... du bist doch Bronwyn, oder?«, fragte ich sicherheitshalber.
»Ach du liebe Güte!«, lachte sie. »Entschuldige! Ja genau. Bronwyn Elizabeth Taylor. Hocherfreut.«
»Elizabeth Taylor?« wiederholte ich verblüfft.
Bronwyn lachte wieder. »Jaja, ich weiß. Daran ist meine große Schwester schuld. Als ich geboren wurde, stand sie total auf den Film Kleines Mädchen, großes Herz. Diese Pferdegeschichte, weißt du?«, erklärte sie, und ich nickte scheinbar wissend. »Deshalb wünschte sie sich Elizabeth als zweiten Vornamen für mich, und jetzt hab ich den Salat. Man soll eben Fünfjährige keine Namen aussuchen lassen, stimmt’s?«
»Stimmt«, bestätigte ich, noch immer perplex. Sie sprach verdammt schnell und widerlegte damit sämtliche Klischees, die ich über das schleppende Sprechtempo der Südstaatler gehört hatte. Da mir schon leicht schwindlig war, versuchte ich, das Gespräch wieder auf vertrautes Terrain zu lenken. »Danke übrigens, dass ich hier übernachten kann.«
»Ach, was! «, rief sie aus. »Ich freu mich doch total, dass ihr da seid. Ich hab mich schon ewig nicht mehr vernünftig mit jemandem unterhalten. Und Roger gehört für mich eindeutig zu den Top Ten der nettesten Leute der Welt.« Es klang wirklich, als sei ihr das eine Riesenehre, und ich glaubte ihr auf der
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