Amy on the summer road
wollte gerade die Karte aufschlagen, als Lucien seine Hand darauflegte.
»Wenn ihr gestattet«, sagte er und sah uns beide an. »Im Brown gibt es ein berühmtes Gericht, das hier erfunden wurde, und wenn ihr es noch nie probiert habt, dann solltet ihr das jetzt unbedingt machen.«
Ich musste daran denken, wie Roger mich gefragt hatte, wo meine Abenteuerlust geblieben sei. Natürlich war das ein Scherz gewesen, aber trotzdem ging mir die Frage nicht aus dem Kopf. Selbst mein früheres Ich war immer ein bisschen
vorsichtig gewesen. Musste es auch, denn Charlie war das genaue Gegenteil davon. Außerdem war ich nun schon so lange für die Navigation zuständig, dass ich am liebsten eine Art Plan und dazu ein Ziel hatte. Aber ich hatte meiner Mutter die Meinung gesagt und die Welt war davon nicht untergegangen. Und nun war ich ganz entwurzelt und saß mit Roger und einem unbekannten Typen und in Klamotten, die nicht meine waren, in einem Nobelrestaurant in Kentucky. Vielleicht war mir meine Abenteuerlust doch nicht abhandengekommen. Vielleicht ruhte sie sich nur gerade mal ein bisschen aus. Ich schob meine Speisekarte beiseite. »Klingt gut«, sagte ich und hoffte sogleich, dass dieses berühmte Gericht keine Schnecken beinhaltete. Oder Bries, das in England völlig irreführend »Sweetbread« heißt, obwohl es – wie ich dort zu meinem Entsetzen erfahren musste – weder süß ist noch etwas mit Brot zu tun hat.
Roger bedachte mich von gegenüber mit einem Lächeln, das allerdings sofort verschwand, als er hörte, wie Lucien für uns alle einen »Hot Brown« bestellte.
»Ihr esst doch Fleisch, oder?«, erkundigte er sich, als drei Kellner gleichzeitig jedem von uns ein Pfännchen hinstellten. »Das hätte ich natürlich vorher fragen sollen, ihr seid ja aus Kalifornien und so.« Wir hatten uns nur kurz bekannt gemacht, während wir auf das Essen mit dem bedrohlichen Namen warteten. Dabei hatten wir erfahren, dass Lucien 18 war und ab Herbst ans College der Vanderbilt-Uni in Nashville, Tennessee, gehen würde.
»Keine Vegetarier unter uns«, verkündete Roger.
»Gut«, antwortete Lucien, »dann haut mal rein.«
Eingehend inspizierte ich den Inhalt des Pfännchens, das auf meinem Teller platziert worden war. Einer der Kellner hatte uns die Spezialität erläutert: Ein »Hot Brown« war ein Stück Putenbrust auf großen, weich aussehenden Brotscheiben. Das Ganze war mit Parmesan und einer cremigen Soße bedeckt, von Tomatenscheiben flankiert und mit Petersilie und zwei Scheiben Schinkenspeck garniert. Ich bestaunte die Kreation immer noch und fragte mich, wo ich anfangen sollte, als mir auffiel, dass Lucien auch noch nicht begonnen hatte zu essen. Er sah mich erwartungsvoll an, und erst als ich meine Gabel hob, nahm auch er seine zur Hand. Ich hatte schon viel von den tollen Manieren der Südstaatler gehört, aber immer angenommen, dass sie schon vor hundert Jahren ausgestorben seien. Das war ganz offensichtlich nicht der Fall, denn der lebende Beweis saß mir direkt gegenüber und wartete darauf, dass ich den ersten Bissen aß. Erst dann würde er es sich selbst schmecken lassen.
Mit dem überraschend schweren Besteck schnitt ich ein kleines Stück von meinem Sandwich ab und kostete erst einmal. Es schmeckte fantastisch. Beim nächsten Bissen schaute ich zu Roger hinüber, der auch ganz begeistert vor sich hin kaute. Beim Weiteressen stellte ich fest, dass diese Spezialität aus lauter Sachen bestand, die ich ausgesprochen gern mochte – wieso war eigentlich außerhalb von Kentucky noch niemand auf die Idee gekommen, diese Zutaten zu kombinieren und mit Käse zu überbacken?
Roger hatte sich eine Cola bestellt, da Root Beer nicht auf der Karte stand. Ich hingegen hatte mich Lucien angeschlossen, der ein Getränk namens Sweet Tea orderte.
Nachdem es serviert wurde, probierte ich einen kleinen Schluck, dann noch einen und hatte den Eindruck, dass damit Cream Soda als mein bisheriges Lieblingsgetränk schlagartig in den Schatten gestellt wurde. Es war eine Art sehr süßer Eistee. Nach dieser Erfahrung und dem Nu Way -Erlebnis beschloss ich, dass ich fortan immer auf Empfehlungen vertrauen würde, denn das hatte bisher hervorragend geklappt. Lucien kündigte an, dass er auch die Bestellung des Desserts übernehmen würde, was ich entzückt annahm.
Während die Jungs heftig über Sportfilme diskutierten, verschwand ich mal eben zur Toilette. Ich hoffte für Lucien, dass er den Film Hoosier nicht erwähnen
Weitere Kostenlose Bücher