An den Rändern der Zeit, Teil 2 (German Edition)
er riss den Räuber von ihr weg und versetzte ihm einen Magenschwinger, der den Hageren taumeln und sich zusammenkrümmen ließ. Er hatte keine Chance gegen den durchtrainierten jungen Killer. Ein, zwei Handkantenschläge, die Varian seinem ersten Fausthieb folgen ließ, trieben den Mann in die Flucht.
Vivian Dulac keuchte; das Haar hing ihr wirr ins Gesicht und ihr rechtes Ohrläppchen blutete – offenbar hatte der Kerl noch Zeit gehabt, ihr einen der Ohrringe abzureißen. Das Schmuckstück blieb unauffindbar. Varian hob den Schuh auf und reichte ihn seiner Besitzerin, die ihn leer anstarrte und sich dann von ihm aufhelfen ließ.
Zu einem Danke reichte es bei ihr nicht, doch allmählich kam wieder Leben in ihre vom Schock geronnenen Augen, und sie musterte Varian.
„Nun wissen Sie, was ich meinte“, sagte er mit einem leisen Lachen. „Hier, an der Halbweltgrenze, wimmelt es geradezu von üblen Typen.“
„Und was machen Sie dann hier, Mister Varian?“, schoss sie unerwartet scharf zurück. Immerhin klappte es anscheinend wieder mit ihrem Kurzzeitgedächtnis. „Wer sagt mir, dass dies nicht abgekartet war und dass Sie mit mir nicht womöglich noch Übleres im Sinn haben?“ Ihre Augen funkelten ihn misstrauisch an. Ihre linke Wange war leicht geschwollen, und als sie sich, zusammenzuckend, über das Ohr strich, hatte sie ein wenig Blut an ihren perfekt manikürten Fingern. Aber trotz ihres derangierten Aussehens war sie immer noch äußerst attraktiv. Grinsend erwiderte Varian: „Gern geschehen“, als hätte sie sich bedankt. Dann wurde er ernst und meinte: „Sagen wir es einmal so: Sie haben vor mir nichts zu befürchten.“ Vorerst jedenfalls nicht, fügte er in Gedanken kühl hinzu. Nicht, bevor du mir so einiges erklärt hast, LARA …
Sie stand nachdenklich da und schwieg.
„Wie ist es?“, drängte er schließlich. „Gestatten Sie mir nun, Sie nach Hause zu bringen?“
„Nein“, entschied sie, „ich werde direkt ins Büro gehen, mich dort ein wenig frischmachen und dann arbeiten. – Aber Sie können mich zum Mittagessen einladen. Holen Sie mich um 12.30 Uhr ab und zeigen Sie dem Pförtner dies hier.“ Energisch drückte sie ihm eine etwas altmodisch wirkende Visitenkarte in die Hand. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich schroff ab und setzte ihren Weg fort.
Diesmal folgte Varian ihr nicht. Er blickte ihr nach in dem sicheren Gefühl – der Vorahnung –, dass sie nun tatsächlich keinen Beschützer mehr brauchte.
Er beschloss seinerseits, sein Loft aufzusuchen und sich ein wenig auszuruhen – falls ihn seine durcheinanderwirbelnden Gedanken nicht davon abhalten würden. Auf der Visitenkarte stand die genaue Büroadresse von Miss Vivian Dulac. Eine Adresse mitten im Herzen der Augenwelt. Er freute sich auf ihr zweites Treffen.
*
Der Große Platz, wie er ganz schlicht genannt wurde, war früher abstoßende hässlich gewesen – damals diente er auch nur als Sammelstelle für das unermessliche Heer der Verwaltungsangestellten, die im AMT und um das AMT herum ihre Arbeit verrichteten. Die Amtssklaven. Und manchmal hatte es hier Demos gegeben … so wie die Chiprebellion der Short-Story-Jobber. Waren die damaligen Amtsmänner und –frauen ebenfalls auf den Platz gegangen, um dort ihre knappen Mittagspausen zu verbringen? Vermutlich. Jetzt jedenfalls war es so: Man aß hier zu Mittag. Die Menschen saßen auf weißgeschwungenen Bänken oder direkt auf der Brüstung vor den wunderbunten Wasserspielen in der Mitte des Platzes. Palmen und Kastanienbäume spendeten Schatten und Sauerstoff; unter ihnen fand man stets eine weiße Bank oder andere Sitzelemente, vielfach aus Naturstein und in klaren geometrischen Formen. Sie sahen wie moderne Kunstobjekte aus, aber es war Kunst, die man benutzen konnte, und sie erfreute sich großer Beliebtheit.
All das hatte den Platz unglaublich verschönert, und es war kein Wunder, dass überall Menschen saßen: lachend, plaudernd, essend. Zumal die Mittagspause seit einem Jahr auf anderthalb Stunden verlängert worden war.
Seit einem Jahr, dachte Varian und verzog leicht das Gesicht. Magische Worte. – Er war früh dran für seine Verabredung mit Miss Varian Dulac, und so schlenderte er gemächlich über den Großen Platz. Ein strahlender Tag. Er musste seine Augen gegen das blendende Sonnenlicht zusammenkneifen, als er hinaufblickte zu dem gläsernen Büroturm, der sich dicht an den Obelisken schmiegte.
In seinem Loft hatte Varian wenig geschlafen,
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