An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
füllte den Becher erneut und schwankte an Reinmars Arm in Richtung ihrer Kabine.
Salzwasser schwappte die Stufen des Niedergangs herunter. Wie das Meer jetzt wohl aussah? Der Gedanke, hinaufzusteigen und wenigstens kurz den Kopf in die Gischt zu strecken, war so verlockend wie undenkbar. Erschrocken prallte sie zurück, als der in nassem Ölzeug steckende Kapitän die Stufen herabsprang.
«Was tun Sie denn hier?», rief Vesterbrock unfreundlich, ihr ein Windlicht vors Gesicht haltend. Von seinem Südwester troff das Wasser. «Fräulein, Sie müssen sich in Ihrer Koje festbinden, los!»
«Ich verbitte mir einen solchen Ton», sagte sie ruhig, und er rannte kopfschüttelnd den Gang entlang.
Reinmar tadelte sie mit einem Zungenschnalzen. «Gelassenheit ist eine Tugend, meine Liebe, aber unterschätzen sollten Sie die Lage nicht.»
«Sie denken, wir sind in Gefahr?»
«Ich hoffe, nicht ernsthaft.» Er geleitete sie zu ihrer Kabine, wo Frau Wellhorn in heilloser Auflösung war. Die alte Dame stolperte herum und kramte in Koffern und Seekisten.
«Ihr Wasser, Frau Wellhorn», Janna streckte den Napf vor, aus dem die Hälfte wieder herausgeschwappt war.
«Wasser? Was soll ich denn damit? Wir werden untergehen!»
«Ach, das glaube ich nicht. Stürme sind selten im Dezember.»
«Und das da , bei Gott, ist etwa kein Sturm?», schrillte Frau Wellhorn. Sie hatte sich angekleidet und ihr Cape übergeworfen; vergessen war offenbar ihre Übelkeit. Mit der schiefsitzenden Schute auf dem Kopf machte sie einen derangierten Eindruck. «Hinaus mit Ihnen, Herr Götz!»
«Aber Frau Wellhorn …»
«Lassen Sie nur.» Reinmar drückte Jannas Hand. «Ich muss hinunter, nach Pizarro sehen. Kommen Sie zurecht?» Er wartete nur ihr verwirrtes Nicken ab und verschwand.
Janna hängte den Napf an seinen Haken und wollte in ihre Koje kriechen, doch Frau Wellhorns Hand an der Schulter hielt sie zurück.
«Ziehen Sie sich an, Johanna», befahl Frau Wellhorn in einem so düsteren Ton, dass es Janna schauderte. «Ich weiß, Sie sind überaus wohlbehütet aufgewachsen und denken, das Leben ist ein bunter Teller, aber diese Stunde wäre eine gute, endlich erwachsen zu werden.»
Janna stand der Mund offen. Was redete sie denn da?
«Und an Ihrer Stelle, Fräulein Janna, würde ich nicht dieses leichte französische Zeug wählen, sondern das kräftige braune Kleid in altdeutschem Stil. Es ist das beste, was man tragen kann, um als Schiffbrüchige von irgendwelchen Fremden aus dem Wasser gezogen zu werden.»
Du meine Güte! War sie jetzt vollends übergeschnappt? Doch als aus den Tiefen des Schiffsbauchs ein Krachen kam, lauter als alles zuvor, eilte sich Janna, ihre Schnürbrust über der Chemise zu binden. Dann schlüpfte sie, durch die wankende Kabine tänzelnd, in ihr geliebtes blaues Empirekleid und das cremefarbene Spenzerjäckchen. Sollte es wirklich ernst werden, wollte sie sich wenigstens bewegen können.
«Sie haben doch den kleinen schwarzen Koffer?» Inzwischen war das Getöse so laut, dass Frau Wellhorn rufen musste. «Tun Sie alles hinein, was Sie mitnehmen wollen!»
Janna spürte eine schmerzhaft geballte Faust in der Magengrube. Es war eindeutig Angst. Mochte sie neugierig und mit ihrer Herumträumerei auch ein wenig weltfremd sein, wie ihr Vater gerne anmerkte – für tapfer hielt sie sich nicht. Das nächste, schwere Krängen des Schiffes ließ sie auf die Knie fallen. Sie löste die Knoten, die ihren Koffer unter der Koje an seinem Platz hielten, und klappte ihn auf. Ihre Aquarellfarben, ein Zeichenblock und einige Bücher waren darin. Aus einer Ecke ihrer Koje fischte sie die spanische Übersetzung des Robinson Crusoe und stopfte ihn dazu. Dann noch ihr Réticule mit Reinmars Schmuckbeutelchen darin, der Füllfederhalter, die Taschenuhr …
«Doch nicht die ganzen Bücher!», schimpfte Frau Wellhorn. «Was wollen Sie denn damit, wenn das Schiff untergeht?»
«Was soll ich denn sonst einpacken?», gab Janna trotzig zurück. «Soll ich alles hinauswerfen und meinen Turner einpacken? Aber der ist zu groß.»
Ihr Lieblingsgemälde befand sich sowieso beim großen Gepäck in einem der unteren Decks. Hoffentlich blieb es trocken! Den Ölfarben würde das Wasser nichts ausmachen, aber ein paar Tropfen auf die ungeschützte Rückseite der Leinwand, und das Bild wäre hässlich verzogen. Wie es dem armen Pizarro jetzt wohl erging? Aber solche Gedanken vergingen ihr, als sie schmerzhaft gegen den kleinen Schreibtisch
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