An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
seine Tränen, den Beweis des schweigsamen Wolfs, dass sie seines Vertrauens wert gewesen war. Wenn sie nur wüsste, um wen er geweint hatte. Wen er um ihretwillen verraten hatte … Diese Grübeleien würden wohl niemals enden.
«Ich gehe Wasser holen.» Sie marschierte in eine Ecke, wo der Eimer stand.
«Sie sollten nicht so raumgreifende Schritte machen», warf Frau Wellhorn dumpf ein. «Hat das Aufputzgeschäft eigentlich wieder geöffnet, Herr Götz? Sie haben doch bestimmt nachgesehen, als Sie in der Stadt waren.»
«Ja, das habe ich. Aber da ist man auch noch am Aufräumen.»
Janna lachte. Die beiden hatten Sorgen! «Und die Buchhandlung?»
«Die hat schon geöffnet. Die Druckerei daneben auch. Bolívar will eine neue Zeitung herausgeben, hat man mir erzählt.»
«Und der Schneider?», fragte Frau Wellhorn.
Janna hörte nicht länger hin. Sollten sie sich um solchen Tünkram die Köpfe zerbrechen! Stattdessen würde sie sich daranmachen, einen Kaffee à la Arturo zu brauen: kräftig und fast ungenießbar. Sie lief durch die Halle nach draußen. Hier war die Luft frisch und ließ mit ihrer warmen Erdigkeit die Nähe des Flusses erahnen. Das schmiedeeiserne Tor stand halb offen – die Armee hatte das Schloss beschädigt. Was sprach eigentlich dagegen, zum Ufer zu laufen, sich der Kleider zu entledigen und zu baden? Nun, vieles, vor allem die Gefahr der wilden Natur. Jetzt genoss sie es erst einmal, sich einen Eimer frisches Brunnenwasser heraufzuziehen und das Gesicht zu nässen. Mit den Händen hob sie das Wasser an den Mund und trank gierig.
Als sie in die Küche kam, meinte sie kurz einen großen Schatten zu sehen, der dort nicht hingehörte. Sicherlich täuschte sie sich; der ganze Raum war voller Schatten, denn im spärlich durchs Fenster fallenden Sternenlicht konnte man kaum mehr als die Hand vor Augen sehen. Sie tastete sich zum Herd vor und öffnete die Klappe, wo Reinmar mit Hilfe eines Tunkhölzchens eine Glut entfacht hatte. Die fütterte sie mit Stofffetzen und Reisig und setzte das Wasser auf. Im rötlichen Schimmer fand sie die von Lucila sauber aufgereihten Säckchen und Beutel. Da waren die Kaffeebohnen. Eine Kaffeemühle hatte sich beim Aufräumen gefunden. Janna befüllte sie und drehte gemächlich die Kurbel. In einem Korb lag ein Häuflein Tabakblätter. Ihr fiel auf, dass sie nicht mehr so häufig gestochen wurde und dass es weniger juckte. Aber vielleicht sollte sie die Blätter zerkauen und Frau Wellhorn zum Einschmieren geben. Sie musste kichern. Als ob die alte Dame sich je dazu herabließe … Vorhin hatte David das Stück eines Moskitonetzes gefunden. Dringend musste der Schutt abgetragen werden; wer mochte wissen, welche Dinge sich darunter befanden, die jetzt so wertvoll wie Schätze waren?
Ihre Augen bemerkten den lebendigen Schatten einige Herzschläge früher als ihr Verstand. Ein Eindringling befand sich in der Küche – und kam auf sie zu. Janna wusste sich nicht anders zu helfen, als die Mühle an der Kurbel hochzureißen. Das Schublädchen flog heraus. Vor Ärger, dass das Pulver verloren war, schnellte sie hoch und schlug die Mühle nach vorne, wo sie das Gesicht des Mannes vermutete. Sie traf es. Doch das Aufstöhnen klang nicht männlich.
Eine Klinge blitzte im schwachen Schein der Glut auf. Janna schlug danach; das Holz der Mühle glitt daran ab. Klirrend fiel das Messer zu Boden. Überrascht von ihrem Erfolg, zögerte Janna einen Augenblick zu lange, es an sich zu bringen. Schon funkelte es wieder dicht vor ihren Augen. Die Frau, die es in der geballten Faust hielt, entblößte die Zähne zu einem deftigen Fluch. Dann packte sie einen Sack und rannte lautlos hinaus. Janna verzichtete darauf zu schreien, damit Reinmar sie aufhielt – die Diebin war viel zu schnell. Außerdem musste sie erst verdauen, dass sie jene Frau erkannt zu haben glaubte, mit der sie sich voriges Jahr einen kleinen Wettstreit im Reiten geliefert hatte.
***
Auch in den nächsten Wochen verzichtete Janna darauf, von ihrer Begegnung zu erzählen. Frau Wellhorn würde nur überschnappen vor Furcht, und Reinmar würde das Ausreiten auf dem Maultier verbieten und womöglich irgendwelche Kerle anheuern, um die Hazienda zu bewachen. Oder selbst ständig mit dem Gewehr umherstreifen. Janna war froh, wenn er in der Stadt war. Dann konnte sie aufatmen, und auch die Arbeit ging ihr leichter von der Hand. Ach, La Jirara war trotz allem ein so wunderbarer Ort. Unter ihren unermüdlich
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