An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
Dass die Treppe noch existierte, erschien ihr als zweites Wunder, war doch die Wand neben der Haustür eingestürzt, dazu das halbe Dach. Mannshoch lagen die Schichten aus Ziegeln, Schindeln, Holz und Stroh. Die Haustür hing schief in einer frei stehenden Zarge. So schlimm zugerichtet das Haus war, so schlimm roch es auch nach menschlichem Urin und Pferdedung.
Janna malte sich aus, noch einmal vor Simón Bolívar zu stehen und ihm für seine Großzügigkeit ins Gesicht zu hauen.
Sie lief hinaus in den Patio und raffte den Stoff auf. Die Fahne war wirklich riesig. Mit Lucilas Hilfe breitete sie sie auf dem Boden aus, nahm ein langes Holzstück und fischte damit die Binden aus dem Teich und warf sie auf den Stoff. Mit einem Reisigbesen fegte sie allen erreichbaren Schmutz auf die Fahne; dann nahm sie die Enden auf und zog das schwere Bündel hinter sich her durch die Halle hinaus ins Freie. Nachdem sie das dreimal getan hatte, musste sie sich auf einen der Korbsessel setzen und sich den Schweiß von der Stirn wischen. Als sie sich umsah, hatte sie nicht den Eindruck, viel getan zu haben. Derweil schleppte Lucila größere Stücke nach draußen. Fast hätte sie den Bananenstrunk fallen lassen, als Frau Wellhorn gebückt in den Patio kam, eine Kanonenkugel vor sich herrollend.
«Sehen Sie sich das an, Fräulein Janna! Beinahe wäre ich über dieses Ding gestolpert.»
Lucila ließ den Strunk fallen und versuchte die Kugel zu heben. Sie schaffte nur eine Handbreit.
Stöhnend ließ sich Frau Wellhorn in einen der anderen Sessel fallen, schnappte sich ein herumliegendes Bananenblatt und wedelte sich damit vor dem Gesicht herum. «Es wird Jahre dauern, dieses Haus wieder wohnlich zu machen. Eigentlich sollte man es abtragen und neu aufbauen.»
«Wenn erst einmal der Schutt fort ist, werden wir sicher feststellen, dass es nicht so schlimm ist.»
«Nicht so schlimm, bei Gott!» Die Anstandsdame japste empört. «Nicht nur, dass es halb zerstört ist – in den Wänden, die noch stehen, sind überall Einschusslöcher! Als hätte hier eine richtige Schlacht stattgefunden! Wer weiß, wie viele Tote wir finden werden, wenn der Schutt erst einmal fort ist. Das überstehe ich nicht.»
Janna lag auf der Zunge, dass man das durchaus überstand. Sie musste es wissen, denn sie hatte Ähnliches in der Franziskanermission im Delta erlebt. «Ich denke doch, keinen. Sonst wüssten wir das ja schon.»
«So? Und wieso?»
«Weil wir sie längst riechen würden», beantwortete Lucila die Frage, während sie immer noch mit der Kanonenkugel spielte.
Frau Wellhorn verdrehte die Augen und klopfte sich auf die heftig bebende Brust. Es bedurfte keiner Aufforderung; Lucila rannte schon los und kam bald darauf mit dem Riechfläschchen zurück. Janna fragte sich, was sie eigentlich an Arzneien dahatten. An Vorräten? An nötigen Dingen wie Zunderbüchse, Kerzen, Geschirr oder Fässern? Sie stattete der Küche einen ersten Besuch ab. Auch hier regierte das Chaos. Die Fliesen am gemauerten Herd waren beschädigt, und auf der eisernen Herdplatte stapelten sich verkrustete Töpfe und Pfannen. In einem Kessel schwammen weitere blutige Binden. Und eine tote Ratte. Janna hütete sich, ihn jetzt auszukippen – der Gestank wäre unerträglich. Überall schwirrten Fliegen, und auf dem Boden huschten Kakerlaken. Das alles schreckte sie kaum noch. Nicht nach allem, was sie erlebt hatte, seit sie an der Küste dieses Landes im Sand aufgewacht war. Im fast leeren Schrank fand sie wahrhaftig noch ein Riechfläschchen. Es war voll; anscheinend hatte eine marodierende Soldateska dafür keinen Bedarf. In den Ritzen einer Schublade entdeckte sie Sonnenblumenkörner. Jedes einzelne Korn pulte sie heraus, und zurück im Patio, streute sie die Körner in den Käfig. Die Vögel umflatterten ihre Hand und schimpften.
«Vielleicht müssen wir die braten», meinte David. Er hatte inzwischen Lucila an der Kanonenkugel abgelöst, sich daraufgesetzt und rollte hin und her.
«Auf keinen Fall.» Janna zog die Hand heraus und schloss den Käfig. «Geht es Ihnen besser, Frau Wellhorn?»
«Ich glaube nicht!»
«Helfen Sie uns doch ein bisschen beim Aufräumen. Bewegung tut Ihnen gut.»
Ein schnaubender Laut beantwortete, was Frau Wellhorn davon hielt. «Womöglich finde ich doch eine Leiche. Die kann ja gar nicht mehr stinken; bei der Bruthitze hier ist die längst verdorrt.»
«Das wäre möglich», befand David. «Ich habe einmal einen toten Wasserbüffel gefunden.
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