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An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)

An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)

Titel: An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Beto
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barg das Gesicht an ihrem Hals. Arturo war sich nicht sicher, doch er meinte, sie tat ihren letzten Atemzug im gleichen Augenblick, da ihr der Vater diese Worte ins Ohr raunte. Über ihre Schulter hinweg blickte der Mann ihn an.
    «Komm morgen wieder», bat er.
    Wozu? Arturo fand, er habe anderes zu tun. Trotzdem fuhr er anderntags noch einmal hin. Die Plattform erbebte unter dem Gewicht von an die hundert Menschen. Es waren viele Mischlinge darunter, und auch einige der Warao trugen Stoff um die Hüften. Jemand hatte sogar ein ungeladenes Gewehr und fuchtelte damit herum, um Totengeister zu vertreiben. Mit heller, klagender Stimme rief der Schamane, dass er, Arturo, seine Tochter gebracht habe. Arturo bekam zu essen, Brei aus Sago, Bananensuppe und Stücke von Wasserschlingpflanzen, um sie auszusaugen. Er fragte sich, ob sein eigener Stamm so war wie dieser. Seit langer Zeit gestattete er sich Bruchstücke von Erinnerungen an eine Mutter und an einen Vater. Er erinnerte sich auch, nicht richtig dazugehört zu haben, da seine Haut nur von der Sonne gebräunt war, ohne den rötlich-erdigen Ton der anderen aufzuweisen. Auch diese Leute hier sahen staunend zu ihm auf, vor allem jedoch wegen seiner Größe.
    Ihr Heulen und Wehklagen zog sich den ganzen Tag hin. Er wäre längst fortgepaddelt, hätte der Schamane ihn nicht immer wieder gebeten, noch zu bleiben. In Gedanken war er bei den Dingen, die er für den erbeuteten Ohrring eintauschen wollte. Eine gute Axt, denn in der Mission waren sie alle abgenutzt und wacklig; man musste immer damit rechnen, dass einem die Klingen um die Ohren flogen. Er wollte seinen Einbaum zu einer Piroge aufbauen. Dann einen Mast schlagen. Tuch für ein Segel besorgen, das er anzufertigen gedachte. Die Kraft des Windes machte die Wege auf dem Fluss leichter. Und weiter. Bisher war er noch nie am Küstensaum gewesen. Er wollte endlich Gewissheit haben, einmal das Meer zu erblicken. Vielleicht hatte er das längst, ohne es zu wissen – wo der Fluss endete und das Delta begann, war schwer zu sagen.
    Da die Sonne tief stand, blieb er noch eine Nacht. Als die Vögel, Frösche und Zikaden den nächsten Morgen ankündigten, brachen die Indios auf.
    «Bleib noch», sagte Gaúpe.
    Wie zuvor saß der Schamane auf seiner Matte und sog den Qualm von Tabakblättern ein, die in einer Schale verglühten.
    «Willst du etwas über deine Zukunft hören?», fragte er.
    «Nur wenn Gold darin vorkommt.»
    «Was willst du mit Gold?»
    «Ein anderes Leben.»
    «Ein anderes willst du? Genügt dir das eine nicht?» Über dieses Ansinnen schüttelte Gaúpe den Kopf, atmete den Rauch ein und versank in Schweigen. Arturo ging nicht, da er wusste, dass er sowieso wieder aufgehalten werden würde.
    «Ich schulde dir etwas», kam der Alte endlich zur Sache. «Ich werde für dich Maria Lionza anrufen, die Königin der Wildnis, die im Feuer die Zukunft zeigt und die Krankheiten der Menschen heilt, wenn man sie darum bittet. Kennst du sie?»
    Natürlich. In den Dörfern der Cimarrónes und Banditen hatte Arturo von ihr gehört und auch Rauch ihr zu Ehren verbrannt. Schließlich war sie die Göttin der Armen und der Verlorenen.
    «Willst du hören, was sie dir zu sagen hat?»
    Arturo nickte zögernd. Er deutete auf die Tätowierung auf dem Unterarm des Alten. Dort war sie als nackte Häuptlingstochter mit wehendem Haar und auf einem Tapir reitend dargestellt. Die Arme und Schultern der Männer in den Siedlungen zierten viele solche Bilder, doch waren sie zumeist schlampig ausgeführt. Dieses jedoch war von beeindruckender Wirklichkeitstreue. «Wer hat das gemacht?»
    «Ich selbst.»
    «Mach mir das auch. Hier», Arturo berührte seinen rechten Oberarm. «Aber mach sie als Mutter Gottes, bekleidet und mit Krone.»
    Gaúpe nickte. Ihn schien dieser Wunsch zu freuen. «Komm morgen wieder. Bis dahin bereite ich alles vor. Und danach rufe ich sie für dich.»

    Arturo lag auf der Seite. Gaúpe hatte sich über ihn gebeugt, die Lippen zwischen die Zähne geklemmt, und schlug mit einem Aststück auf den Kopf eines angefeilten Nagels, machte Schnitte mit einem Klingenstück und rieb mit Asche vermengten Saft einer schwarzen Wurzel in die Wunden. Der Schmerz war erträglich. Arturo dachte an das, was Frater Christoph dazu sagen würde: Das hättest du nicht tun dürfen. Du kommst in die Hölle! Er war jetzt zwanzig Jahre alt. Dieser Schritt machte ihn endgültig zu einem erwachsenen Mann. Den Gott der Mönche würde er damit ebenso

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