An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
Ihnen ein, mich zu duzen?»
Er verzog das Gesicht, als bereue er schon, seine Sprachkenntnisse verraten zu haben.
«Ist ein Hafen in der Nähe? Ein Dorf?»
Unheilvoll zogen sich seine Brauen zusammen. Na schön, sagte sie sich, auf Deutsch hätte die Antwort nicht anders ausfallen können, als er sie auf Spanisch gegeben hatte. Trotzdem – er musste ihr doch erklären, was er beabsichtigte! Stattdessen setzte er die Fahrt schweigend fort. Janna schlüpfte wieder in ihren Spenzer. Das Wasser hatte wenigstens den Ärmel erreicht; der Schmutz war fort. Sie dachte, dass sie erleichtert sein sollte, sich mit diesem Mann verständigen zu können. Doch es nahm nichts von seiner Bedrohlichkeit. Unwillkürlich stellte sie sich vor, dass er sich die Sprachfertigkeit einfach mitsamt dem Fleisch eines Deutschen einverleibt hatte.
Er lenkte das Boot in einen schmalen Wasserlauf. Tief neigten sich die Bäume, sodass die Kronen einander zuneigten. Wie lebendige, nur eben erstarrte Finger ragten die Wurzeln mannshoch auf. War das eine Schlange, die sich dort im Geäst bewegte? Vögel pickten in den Wurzeln nach Insekten. Hier war das Brandungsgetöse fern; stattdessen zirpte und trillerte es von überall her. Dicht über dem Wasser flogen Libellen einen gezackten Kurs. Waren es wirklich Libellen? So große und tiefblaue hatte sie daheim am Gartenteich nie gesehen.
Sie dachte, dass Oma Ineke dort jetzt saß – das tat sie immer. Nein, dort war jetzt sicher Nacht und außerdem Winter; das hatte sie ganz vergessen. Trotzdem bereitete es ihr keine Mühe, sich die prallen, stets geröteten Bäckchen Oma Inekes vorzustellen. Die kleinen Augen, die sie immer zusammenkniff, weil sie keine Brille benutzen wollte. Die leise Stimme: Kopf hoch, auch wenn der Hals dreckig ist . Mit ein bisschen Rum im Tee hätte die Oma das auch auf Plattdeutsch gesagt. Und Janna aufmunternd zugezwinkert.
Ich gebe mir Mühe, Oma Ineke, versprochen , dachte Janna, und da verschwamm das Bild unter den aufsteigenden Tränen. Sie zog aus dem Ärmel ein nasses Taschentuch und schnäuzte hinein.
Der Drachenherr dachte nicht daran, ihr beim Aussteigen zu helfen. Sie kletterte über die Bordwand und betrat festen Sand. Es tat gut, sich strecken und bewegen zu können. Warum er hier angelegt hatte, erklärte er natürlich nicht. Sie konnte es sich denken: Die Strömung der Ebbe verstärkte die des Flusses, sodass er nicht mehr dagegen ansegeln konnte, wenngleich er, das musste sie zugeben, ein hervorragender Segler war. Als Hamburgerin, die beim Flanieren auf den Alsterpromenaden und am Hafen oft den seemännischen Manövern zugesehen hatte, waren ihr die Handgriffe nicht fremd. Sie wusste auch, dass man dieses viereckige Segel ein Gaffelsegel nannte. Er blickte nach Osten, wo hohe, verzerrte Wolken gutes Wetter für den nächsten Tag versprachen, und entschied sich, nicht abzutakeln.
«Wann fahren wir weiter?», fragte sie.
«Morgen.»
«Sie – Sie wollen die Nacht hier verbringen?» Entsetzt drehte sie sich um die eigene Achse. Es war eine kleine Insel, bis auf einen schmalen Sandstreifen von Gebüsch überwuchert. Sie wusste nicht, was sie hatte glauben lassen, heute noch einen zivilisierten Ort zu erreichen. Aber dass es nicht so war, ließ sie erzittern. Sie hockte sich auf eine dicke Wurzel, legte den Koffer auf den Schoß und hob den Deckel. Die Bücher waren feucht geworden und wellten sich, ebenso das Aquarellpapier und ihr seidenes Réticule. Ihre Finger ertasteten unter dem Stoff Reinmars Granatrose.
Nein, die nicht, keinesfalls! Schlimm genug, dass sie im Sand oder vielleicht schon vorher ihren Verlobungsring verloren hatte. Sie zog die Perlenhalskette aus dem Beutelchen und nach einigem Zögern auch die Perlenohrringe aus ihren Ohrläppchen.
«Ich kann Sie bezahlen, dafür dass Sie mich schnellstmöglich in die nächste zivilisierte Ortschaft bringen.» Sie hob die Hand mit dem Schmuck. Der Drachenherr hörte auf, das halb am Strand liegende Boot nach schadhaften Stellen abzusuchen, und stapfte auf sie zu. Er klaubte den Schmuck auf und ließ ihn auf der Handfläche rollen. Ehe sie es sich versah, hatte er auch das Seidenbeutelchen an sich genommen und schüttelte Reinmars Geschenk auf seine Handfläche.
«O nein, nicht …»
Ihr stand der Mund offen. Er ließ ihren Schmuck in einem der vielen Lederbeutel an Bord verschwinden und fuhr ungerührt fort, den Bootsrumpf zu prüfen.
«Was fällt Ihnen ein!»
Flüchtig hob er den Kopf.
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