An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
«Mädchen, was ist dir dein Leben wert?»
Was meinte er? Dass er sie gerettet hatte? Oder dass der Schmuck die Bezahlung dafür war, sie nicht zu verspeisen? Er konnte sich ohnehin nehmen, was er wollte; und wahrscheinlich musste sie dankbar sein, dass er noch nicht den Koffer an sich gerissen hatte. Sie schluckte Tränen der Wut hinunter. Als sie sicher war, dass ihre Stimme nicht zitterte, sagte sie hoheitsvoll: «Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich nicht duzen würden.»
Die Zopfstränge klatschten auf seinen Rücken, als er sich aufrichtete. Sein Blick war verwirrt. Als wüsste er nicht, wovon sie sprach.
Er brauchte nur zwei Minuten, um mit zwei Holzscheiten, die er aneinanderrieb, ein Lagerfeuer zu entfachen. Was bald darauf in einer zerbeulten Kanne kochte, duftete tatsächlich nach Kaffee. Janna wagte nicht, nach Milch zu fragen, als sie einen ebenso zerbeulten Becher entgegennahm. Das Gebräu war sowieso nicht genießbar; vielleicht lag es am Flusswasser. Aus einem Beutel nahm der Drachenherr zwei schwarze Stangen und reichte ihr eine.
«Tasajo», sagte er und fügte mit einem eiskalten Lächeln, das ihr einen Schauer über den Rücken jagte, hinzu: «Sklavennahrung.»
Kräftig biss er ein Stück ab. Er besaß helle, starke Zähne. Janna legte das Ding beiseite. Es roch entfernt nach Fleisch, und sie wollte nicht wissen, wessen Fleisch. Während er aß und trank, hielt er der Echse, die auf seinen ausgestreckten Beinen hockte, einen belaubten Zweig vor das suchende Maul. Nachdem sich beide gestärkt hatten, hob er sie auf die Schulter und holte aus dem Boot ein Moskitonetz. Ohrenbetäubender Zikadenlärm setzte ein, als die tropische Dämmerung früh und schnell kam. Er warf das Netz über einige Äste. Janna kroch darunter.
«Bleib beim Feuer und auf dem Sand», wies er sie an.
Sie dachte, dass sie so müde niemals werden würde, um hier schlafen zu können. Schon gar nicht, wenn sie den schmalen Raum unter dem Netz mit diesem Mann teilen musste. Doch er ließ sich jenseits des Feuers nieder. Anscheinend verschmähten die Mücken seine Haut.
Den Säbel hatte er neben sich gelegt. Seine Hand ruhte auf dem Griff. Doch bald verriet sein Atem, dass er tief und fest schlief. Janna starrte in einen Himmel voller Sterne. Schatten flogen über sie hinweg. Die Zikaden waren verstummt; stattdessen hatte ein Froschkonzert begonnen. Das Buschwerk raschelte, das Wasser plätscherte, und irgendwo hinter ihr krachte etwas zu Boden. Tausend Gefahren mochten ganz in der Nähe sein. Sie war in eine Laterna-magica-Illusion geschlüpft, während die wahre Janna in ihrer Koje schlief, wie all die Nächte zuvor. Oder sie saß sogar daheim in der elterlichen Villa in ihrer Leseecke, und das heimelige Licht des Argandbrenners beleuchtete den auf dem Schoß aufgeschlagenen Robinson Crusoe . Gleich würde sich die Tür öffnen und Frau Wellhorn sie daran erinnern, dass das künstliche Licht den Augen schadete. Oder Gisela, die ältere Schwester, würde sie schelten, dass sie sich mit Abenteuerliteratur beschäftigte, statt ihre Nase in Anstandsbücher zu stecken, wie es eine junge Dame tun sollte.
Schwesterchen, du hast zu viel Phantasie, damit kann eine Frau doch nichts anfangen.
Janna hatte solche Störungen gehasst. Jetzt sehnte sie sich sogar nach Giselas hochnäsiger Miene. Nach Frau Wellhorns Tadeln. Nach Friedhelm, dem großen Bruder, der brav und unzufrieden in den Fußstapfen des Vaters herumtrat, während er davon träumte, mit dem großen Naturforscher Alexander Baron von Humboldt zu reisen, seit er dessen Brief an den Vater gelesen hatte. Mehr noch nach Vater und Oma Ineke. Was würden sie alle denken, wüssten sie, in welcher Lage sich das Hausküken befand? Und Reinmar …
Leise schniefte sie in ihr Taschentuch.
Sie kroch unter dem Netz hervor, langsam, um den Drachenherrn nicht zu wecken. Ihre Finger berührten den Sand und noch anderes, eine Schnecke vielleicht – sie bemühte sich, nicht darüber nachzudenken. So leise wie möglich tastete sie den Bootsrand ab, wo er den Beutel mit ihrem Schmuck aufgehängt hatte. Keinesfalls würde sie diesem Räuber Reinmars Geschenk überlassen. Sie würde den Schmuck unter dem Kleid verstecken und sagen, sie hätte ihn verloren. Der Mann war kein Gentleman, der eine solch offensichtliche Lüge akzeptieren würde, doch sie musste wenigstens versuchen, damit durchzukommen. Was besaß sie denn sonst noch? All ihr anderer Schmuck lag auf dem Grund des
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