An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
sie eingeschlafen.
***
Jimmys warme Zunge leckte über ihr Gesicht. Im Halbschlaf fragte sich Janna, wie der Jagdhund des Vaters das tun konnte, da er doch auf der anderen Seite des Atlantiks war. Wenn das nur Frau Wellhorn nicht sah; sie würde wieder erklären, dass eine junge Dame über die Kinderei, einem Hund das Gesicht hinzuhalten, hinaus sein müsste. Wie schön, dass er hier war! Janna hob eine Hand, um ihn zu kraulen. Aber das war nicht Jimmys seidiges Fell, das fühlte sich an wie ledrige Warzen … Janna zwang sich aufzuwachen und öffnete die Augen. Auf ihrer Brust saß der Leguan. O Gott, hatte er sie etwa abgeleckt? Sie lag starr, während sich das Tier auf ihr drehte. Der lange Schwanz streifte ihre Wange; der hässliche Lappen unter dem Kinn schaukelte hin und her. Anscheinend wollte Pizarro sich auf ihr sonnen. Nichts erinnerte mehr an das Unwetter, außer dass ihre Kleider dampften. Unter dem Bananenblattdach surrte und summte es wie zuvor, und das Wasser plätscherte leise gegen den Bootsrumpf. Das Gaffelsegel war gerefft. Es herrschte Windstille.
Sie hatte sich am Bug schlafen gelegt. Jetzt aber lag sie im Schatten des Daches. Hatte der Drachenherr sie etwa hierhergetragen? Er saß nah bei ihr, seitlich auf der Heckbank, und hatte ein Buch auf dem Schoß.
Ein Buch? Woher hatte der Halunke ein Buch? Natürlich, er hatte in ihrem Koffer geschnüffelt.
Sie wollte auffahren und ihn zurechtweisen. Aber jeglicher Protest würde an ihm abprallen, und sie fühlte sich noch zu müde für die nächste Auseinandersetzung. Außerdem war es ihr nicht geheuer, das Tier zu verscheuchen. Also hielt sie still und beobachtete ihn zwischen halb zusammengekniffenen Lidern. Dass sie erwacht war, schien er nicht bemerkt zu haben. Er blätterte interessiert. Aha, es war der erste Band von Baron Humboldts Südamerikareise. Reinmar hatte ihn ihr geschenkt. Darin berichtete der Gelehrte ausgiebig von seiner Atlantiküberquerung, von Gebieten im Norden und ihrer Pflanzenwelt, über christliche Missionen, die Sklaverei und so manche Eigenart der Indios. Bedauerlicherweise waren die Berichte über die Landschaften des Orinoco, die für Janna hätten nützlich sein können, erst für die Folgebände angekündigt. Ob der berühmte Naturforscher wohl auch einem so sonderbaren Mann wie dem Drachenherrn begegnet war?
Arturo betrachtete lange das Frontispiz, auf dem die Götter der alten Welt, Minerva und Merkur, die von den Konquistadoren besiegte Allegorie Amerikas, einen Mann im Gewand und mit dem Kopfschmuck eines Inkakönigs, tröstend aufrichteten. Mit dem französischen Text konnte er offensichtlich nichts anfangen. Er legte es beiseite, versuchte es mit Byrons Pilgrimage und der deutschen Übersetzung des Robinson . Angestrengt runzelte er die Stirn und bewegte seine Lippen. Wie alt war er eigentlich? Älter als fünfundzwanzig schätzte sie ihn nicht. Schließlich verstaute er die Bücher wieder im Koffer. Zu Jannas grenzenlosem Erstaunen nahm er Nadel und Faden zur Hand und nähte einen Riss in einem Kleidungsstück. Eine Schnur, die an der Pinne befestigt war, ruckte. Er legte das Nähzeug beiseite und holte sie ein. Ein Fisch zappelte am Haken. Ein schneller Schnitt mit einem der Messer an seinem Gürtel, und das Tier rührte sich nicht mehr. Auf der Heckbank nahm er es aus und filetierte es; die Abfälle flogen über Bord. Janna hörte, wie das Wasser in Wallung geriet, da Raubfische danach schnappten. Schließlich fädelte er die Stücke auf und band sie zum Trocknen an den Segelbaum.
Sein verwaschenes Hemd hing aus dem Bund seiner Kniehose. Über dem tiefen Ausschnitt sah Janna einige hell glänzende Narben mit rötlichen Rändern. Waren das etwa Brandnarben? Auch unterhalb eines Auges hatte er eine solche Narbe, wenngleich feiner und unauffälliger.
Was mochte da passiert sein? Wann und wo? Wer war er? Ein Strandräuber, der die Dinge, die er auflas, bei Indios gegen Nahrungsmittel eintauschte, so viel wusste sie inzwischen. Viel war das nicht. Lebte er in seinem Boot? Was bedeutete die Frau mit dem seltsamen Tier auf seinem Arm? War er früher zur See gefahren, wo man ja zu solchen Tätowierungen kam?
Und vor allem: Warum stelle ich mir diese Fragen?
Weil man seinen Feind kennen muss , gab sie sich die Antwort.
Und wie war es zu dem Gerücht gekommen, er sei ein Kannibale? Sie sagte sich, dass er, falls es stimmte, sie längst umgebracht hätte. Denn gewiss fand sich so zartes Fleisch nicht häufig auf
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