An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
eines langen Leidensweges gewähnt?
«Was ist denn hier passiert? Wer waren diese Strolche?»
«Ich weiß es nicht. Banditen, Cimarrónes, Piraten. Jedenfalls Leute, die verzweifelt waren.»
«Und aus Verzweiflung haben sie gemordet?»
«Entweder waren sie auf der Flucht oder ausgesetzt worden. Anders verirrt man sich nicht in diese Einöde», erklärte er, und sie musste an Geoffrey denken, den britischen Matrosen, der auch so ein verzweifelter Mann gewesen und jetzt vielleicht tot war. «Und dann ist ihnen ein Menschenleben nichts mehr wert, falls es das vorher je gewesen war. Diese Männer hatten Hunger – die Küche ist geplündert. Wahrscheinlich waren es noch ein paar mehr, aber die sind inzwischen fort. Vielleicht waren es ja die Leute, die du suchst?»
«Was fällt Ihnen ein, das auch nur zu denken? Reinmar Götz ist ein anständiger, kultivierter Mann! Und sollten Matrosen bei ihm sein, die sich nicht anständig zu benehmen wissen, würde er sie schon zur Räson bringen!»
Mit Ihnen würde er dasselbe tun , fügte sie in Gedanken hinzu – was er ihr sicherlich von der Stirn ablesen konnte. Wenn Reinmar erfuhr, wie übel dieser Kerl sie behandelt hatte und es wahrscheinlich noch tun würde, würde er ihn zum Duell fordern. Nein, das bedauerlicherweise nicht; ein armseliger Pirogenbesitzer war nicht satisfaktionsfähig, daran änderte auch ein geklauter Offizierssäbel nichts. Aber bestrafen würde er ihn.
Er brachte sie in eines der Häuser. «Hier ist die Küche. Mach dich nützlich, Mädchen, und schau nach, ob noch Vorräte da sind. Ich sehe mich noch einmal um.»
Auch die Küche wirkte vertraut. Es gab einen Buffetschrank, einen großen Tisch, der in wassergefüllten Eimern steckte, wohl um Schädlinge abzuhalten, Stühle und eine lange Bank an der Wand. Aßen Mönche nicht in einem Speisesaal? Als Protestantin hatte sie von derlei Dingen keine Ahnung. Das schlichte Ameublement war mit dicken Wurmlöchern verschandelt und an den Füßen morsch. Und das, was sich wohl ehemals im Schrank und in den beiden Truhen befunden hatte, lag auf dem Boden verstreut. Janna tapste über Berge von Steingutscherben, Glas, das aus den Türen des Buffets geschlagen worden war, hölzerne Teller und geflochtene Körbe. Sie schaute durch die aufgerissenen Türchen, zog Schubladen auf und fand bis auf davonhuschende Käfer und Spinnen immerhin ein Windlicht und Zubehör zum Feuermachen. Darin war sie allerdings nie gut gewesen. Mit einem Besen kehrte sie den Schutt zusammen und klaubte einige verlorene Früchte und Wurzeln auf. Sie fand auch rote Kerzenstummel, kleine, rot angemalte Holzkugeln, die wohl Äpfel darstellten, und Engelchen. Nur langsam dämmerte ihr die Bedeutung.
Sie sackte auf einen der Stühle und barg das Gesicht in den aufgestützten Händen. An Weihnachten war sie ins Unglück gestürzt, und an Weihnachten waren diese Männer gestorben. Ihre Schultern bebten, ihr ganzer Leib zitterte. Ein verzweifeltes Stöhnen kam aus ihrer Kehle; es klang wie ein Tierlaut. Vor sich selbst erschrocken, ließ sie die Hände sinken.
«Reiß dich zusammen», befahl sie sich.
Sie fuhr fort, Ordnung zu schaffen und alles, was unversehrt war, in Körben zu sammeln. Fast hätte sie einen Tontopf fallen lassen, als plötzlich eine Hand nach der Tischkante griff. Auf der Bank lag jemand! In der fahlen Düsternis hatte sie die in eine dunkelbraune Kutte gehüllte Gestalt nicht bemerkt. Ein dürrer Mönch versuchte sich aufzusetzen. Janna eilte um den Tisch. Sie wollte ihm helfen, doch er ließ sich wieder fallen. Offenbar war er nicht mehr Herr seiner Sinne. Sein Blick irrlichterte umher, ohne sie zu bemerken. Um seine Stirn lag ein Verband.
Sie kniete an seiner Seite. Der Leinenstreifen sah aus wie frisch angelegt. Arturo musste das vorhin getan haben. «Dieser maulfaule Kerl!», schimpfte sie halblaut. Hätte er ihr nicht sagen können, dass hier ein Verletzter lag?
«¿Cómo está usted?», fragte sie. Zugleich fiel ihr Blick auf den Herrgottswinkel und das eingerahmte Tuch über der Bank, auf das ein Spruch gestickt war. Alle Geschöpfe der Erde lieben, leiden und sterben wie wir, also sind sie uns gleichgestellte Werke des allmächtigen Schöpfers .
Natürlich! Dass sie das nicht längst begriffen hatte: Dies war eine deutsche Mission! «Wie geht es Ihnen?», wiederholte sie ihre Frage. Ihr war, als sähe der Mönch sie an. Seine Lider sanken.
Blut tränkte den Verband. Hinter seinem Kopf stand ein Korb, aus
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