An den Ufern des goldenen Flusses (German Edition)
dem Arturo sich bedient haben musste. Sie fand weitere, halbwegs saubere Leinenwickel. Vorsichtig löste sie den Verband. Eine schmale, sickernde Wunde teilte den ergrauten Haarkranz. Janna wickelte zwei Binden um den Kopf, wobei sie es kaum wagte, ihn anzuheben. So etwas hatte sie noch nie getan, doch sie kannte den Anblick verletzter oder verkrüppelter Männer; der war während der französischen Besatzungszeit auch einer behüteten Kaufmannstochter geläufig gewesen. Sanft ließ sie den Kopf sinken. Ob der Ordensbruder unter Schmerzen litt? Sie fand unter der Bank eine Kiste, die die Plünderer übersehen hatten. Darin befanden sich, in Leder eingeschlagen, noch mehr Verbandswickel, ein Kräuterbüchlein und ein paar kleine Fläschchen, deren Etiketten unleserlich waren. Und ein Kochbuch. Coloniale Küche und ihre Eigenarten . Zu jeder anderen Zeit hätte sie neugierig darin geblättert. Und wäre es ihr nicht wie Diebstahl vorgekommen, hätte sie es zu der kleinen Büchersammlung in ihren Koffer gesteckt.
Arturo betrat die Küche. Sofort verschwand sie um den Tisch herum auf den hintersten Hocker. Er beugte sich über den Mönch. War das Sorge in seinem Gesicht? Das war schwer zu sagen, denn die hereinbrechende Dämmerung warf tiefe Schatten in den Raum. Flüchtig strich er dem Alten über die Wange, dann entzündete er die Lampe. Was er nun tun sollte, schien er nicht so recht zu wissen. Schließlich setzte er sich auf einen Hocker.
«Sie haben hier Deutsch gelernt, nicht wahr?», brach sie das unangenehme Schweigen.
Er nickte zögernd.
Nun, das mochte erklären, weshalb er sie nicht siezte: Er war das nicht gewohnt, weil es die Brüder untereinander nicht getan hatten und Indios gegenüber sicherlich erst recht nicht. «Und die Mönche haben Ihnen diesen spanischen Namen gegeben?»
Er hasste es, dass sie Fragen stellte. Sein Gesicht spannte sich. «Ja.»
«Und wie kamen sie auf ‹Arturo›?»
Schwer schluckte er. Gleich würde er seinem Zorn freien Lauf lassen. Und sie in den Brunnen werfen.
Seine Lippen bewegten sich verkniffen, während er sich sammelte. «Mein indianischer Name klang so ähnlich», presste er hervor.
Das war alles? Irgendwie fand sie das traurig. Womöglich hatte er noch nie von der Artussage gehört. Aber so gut, wie er sprach, musste er schon recht lange hier leben. «Sind Sie hier aufgewachsen?»
Er nickte.
«Und Sie stammen von den Warao ab?»
«Nein.»
«Sondern?»
«Kariben.»
Kariben – über dieses Indiovolk hatte sie gelesen. Die großgewachsenen Kariben galten als kriegerisch; sie hatten selbst andere Stämme unterworfen, bevor die Spanier gekommen waren. Nach ihnen war die Karibik benannt. Ja, und sagte man ihnen nicht nach, dass es unter ihnen Kannibalen gab? Sie hätte es sich denken können: Natürlich floss das Blut dieses Volkes in seinen Adern und nicht etwa das der schmächtigen, fröhlichen Warao.
«Und warum …»
«Sind alle weißen Frauen so wie du?», unterbrach er sie scharf.
«Wieso, wie bin ich denn?»
«Neugierig. Bockig. Hochmütig.» Er ballte die linke Faust um ein Stück Tuch. «Nicht einzuschätzen.»
Janna warf den Kopf hoch. «Reden Sie von sich?»
Abrupt sprang er auf und schob sich zwischen Bank und Tisch. Sie duckte sich. Doch er kramte nur einen Lederbeutel und ein Tonfläschchen aus dem Verbandskorb. Er setzte sich wieder, holte Nadel und Faden heraus und zog das geknüllte Tuch von der Hand. Zwischen Daumen und Zeigefinger war ein blutiger Schnitt, den er sich zugezogen haben musste, als er die Angreifer abgewehrt hatte. Er gab aus dem Fläschchen eine Flüssigkeit darauf, die nach Essig roch. Zu ihrer Verblüffung begann er im Schein der Lampe die Wunde zu nähen. Die Art, wie der Schmerz ihn zwang, die Lippen über die Zähne zu ziehen, ließ sie an einen wütenden Wolf denken.
5. Kapitel
Janna wappnete sich gegen den Anblick der Leichname und trat blinzelnd ins Freie. Doch wo die Männer gelegen hatten, schwirrten nur schillernde Fliegen, als suchten sie danach. Die Sonne stand bereits über den Palmwipfeln. Janna ging zum Brunnen und zog einen Eimer hoch. Das Wasser schmeckte erdig und war trüb; trotzdem spritzte sie es sich reichlich ins Gesicht. Sie sehnte sich nach Seife. In der Küche hatte sie keine gefunden, und in den anderen Häusern zu suchen erschien ihr pietätlos. Tief atmete sie die Luft ein, die wieder schwer und warm war. Seit wann schuftete der Drachenherr in der glühenden Sonne? Das Grab, das er hinter
Weitere Kostenlose Bücher