An diesem einen Punkt der Welt - Roman
Schwelle vom 16. zum 17. Jahrhundert gestoßen, einen gewissen Juan de Mariana, der eine kühne Theorie über den Tyrannenmord aufgestellt hatte. Das interessierte ihn derzeit mehr als Peter Altenberg oder Till Eulenspiegel. Er müsste nur wollen. Abschließen, zu Ende bringen. Er hatte es Elisa versprochen, als sie zu ihm gezogen war. Das war nun schon einige Jahre her.
Aber er hatte immer anderes zu tun.
Zu viel anderes, was ihm wichtig war. Für die Gemeindezeitung und das Literaturprojekt, für Plakate, Vorträge, Sitzungen und die zahlreichen politischen und sozialen Herausforderungen von POLIKULT und GO FOR BETTER, für Flohmärkte und für Konzerte, die er gab, und, und … und erst vor kurzem hatte er sich vorgenommen, der Geschichte mit Anjuschka nachzugehen, Zeitzeugen zu befragen und eine kleine Publikation darüber zu erstellen, und … Und vor allem musste er dringend Geld verdienen, seit der Vater die Zahlungen eingestellt hatte. Verdienen und Studium abschließen. Hinter sich bringen. Es wäre nicht schwer. Er tat sich leicht. Er schrieb schnell. Allerdings ausufernd. Hatte er den Kern einer Aufgabenstellung durchschaut, interessierte sie ihn nicht mehr und er verlor sich in Nebensträngen.
Er holte sich noch ein Bier. Sollte besser Kamillentee trinken, er hatte Magenschmerzen. Ging hinaus zu seinem Bett auf der Holzveranda, selbst im Winter schlief er oft hier, dick zugedeckt, und morgens war mitunter Schnee auf seinem Gesicht. Aber jetzt war es zu feucht, das Bettzeug klamm, der Regen eine graue Wand vor dem Wald. Stand da, trank in kleinen Schlucken und versetzte sich in die Galaxien über der Wolkendecke, in denen mehr Raum wäre für alles, was sich in seinem Kopf drehte, was er nicht mehr überblicken konnte und was ihm zu viel wurde, ja, es wurde ihm manches zu viel, das war ihm selbst neu und mit Befremden betrachtete er sich von dort oben, war sich selbst ein Rätsel, aber zu unwichtig, um länger darüber nachzudenken.
Ich weiß nicht, sagte Matthias später, was Tom im Lamandergrund festhielt. War ein Zauberort, sicher, eine surreale Versuchsanordnung, ein großer Freiraum in der ganzen Enge. Aber – Tom steckte im Graben fest wie eine Rübe in der Erde. Und trug die Weite der Welt in sich.
Hat jedoch nichts daraus gemacht, war der Refrain des Vaters, was hätte er nicht alles werden können! Aber nichts, nichts ist etwas geworden …
„Was ist nichts und was ist etwas“, steht als Notiz in Toms braunem Heft mit dem weichen Umschlag, „und für wen bedeutet nichts nichts, was für einen anderen etwas sein kann, viel sogar, alles vielleicht?“
Ein Fensterflügel schlug leise auf und zu.
Auf einem Brett lagen die Frühäpfel aus dem Garten.
Ein Tier schrie im Wald.
Er hörte den Bach.
Hörte ihn graben und höhlen unter dem Haus.
Rinnend und rollend.
Langsam und unnachgiebig.
Was war, ist vorbei.
Was war, lebt weiter.
Tom schloss die Verandatür.
9
Tom stand unter der Kanzel im gewaltigen, fast gewalttätig ausgeschmückten Innenraum der Stiftskirche und spielte Fremdenführer. Eigentlich spielte er es nicht, er war es, er machte das gern. Er konnte gut erzählen. Die Leute liebten ihn, Busreisende und Einzelreisende, manche kamen immer wieder, nur, um ihn zu hören. Die Frauen himmelten ihn an. Das Wort passt gut zu diesem Ort, dachte er und lachte in sich hinein. Manchmal mischte sich Dominik unter das Publikum, hörte aufmerksam zu und schrieb Notizen in sein Geschichteheft.
Lebhaft und in seinem Enthusiasmus ansteckend sprach Tom über Kirche, Konvent und die prachtvolle Barockbibliothek, erklärte den Unterschied zwischen „Stift“ und „Kloster“ und dass beides hier berechtigt wäre, entwarf ein Panorama des damaligen Europa, das sich im Kleinen hier finden lasse, erzählte es jedes Mal anders und schweifte oft ab, was ihm von den Arbeitgebern vorgeworfen wurde. Er erzählte von Adelsgeschlechtern, Baumeistern, Künstlern und Wissenschaftlern, den ersten Äbtissinnen und den späteren Äbten, von diesem Prior und jenem Kaiser, vom Leben der Bauern und Handwerker, von Hostienfrevel und schwarzen Messen und von den Protestanten, die zur Emigration gezwungen wurden, erzählte von Pest und Bränden, vom Sieg über die Türken und von neuer, unbändiger Lebenslust, so dass die Menschen verstehen würden, was sie hier sahen: Diese grenzenlose Übertreibung, diese Wucherei des Heiligen in Gold und weißweißem Stuck, kein Zentimeter ohne Blüten-, Frucht- und
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