An diesem einen Punkt der Welt - Roman
eingeschlafen. Jemand sammelte die Flaschen ein. Manche plauderten gedämpft. Matthias öffnete ein Fenster. Frische Nachtluft kam herein. Das Wasser aus der Dachrinne rann in die Regentonne neben der Speisekammer. Das Gewitter hatte sich verzogen.
Genial, sagte Tom plötzlich. Einfach genial, wie der Adalbert Stifter das Warten auf ein Gewitter beschreibt. Über fast dreißig Seiten – könnt ihr euch das vorstellen, einfach nur das Warten auf ein Gewitter! Sonst passiert nichts, ich meine, nichts Abenteuerliches. Ein junger Mann hat auf seiner Wanderung als Schutz vor einem anrückenden Gewitter bei einem freundlichen Herrn eine Nachtbleibe gefunden, sie lesen ein wenig und reden, dann gehen sie in den Rosengarten und warten auf das Gewitter, gehen hinaus ins Freie auf einen Hügel, schauen in die Landschaft und warten auf das Gewitter, gehen zurück und nehmen ihr Abendbrot und sie reden ein wenig und schweigen wieder und warten auf das Gewitter …,
das schaut beim William Faulkner anders aus, drunten an den Ufern des Mississippi, da ist es schwül, da schrillt die Nacht, da sind die Wanderarbeiter unterwegs, die Whiskey schmuggeln, da schleicht einer durch das Dorf der Schwarzen, ein Reverend wird im Wald bewusstlos geschlagen, ein junges Mädchen geht barfuß die staubige Landstraße entlang, um den Mann zu finden, der ihr das Kind gemacht hat, das sie auf ihrem langen Weg unter dem Herzen trägt, I have come from Alabama … Und einer wartet auf etwas, das er nicht benennen kann, das Mord und Brand in sich trägt, er hat Angst, er weiß, dass er besser von hier fortginge, aber er wartet, ein Jahr, zwei Jahre, und die Dinge um ihn und er selbst werden corrupt with waiting – corrupt with waiting , das kann sich nur ein Faulkner ausdenken, und dann …
… dann, sagte Matthias, bevor du uns jetzt den ganzen Roman erzählst, gehen wir lieber.
Tom sah ihnen nach, hörte das Starten der Autos. Heim, dachte er. Sie fahren heim. Jeder hat ein Zuhause, eine Frau, eine Geliebte, einen Beruf, manche hatten Kinder. Er nahm die Gitarre, richtete sich die Mikrofone und Verstärker und nahm den Kopfhörer. Dann ließ er es wieder bleiben.
Sie fahren nach Hause.
Irgendjemand, irgendetwas, wartet auf sie.
Vielleicht ein Ziel für morgen.
Vielleicht für nächstes Jahr.
Elisa hatte am Abend aus Toronto angerufen. Ein Wahnsinn, so toll diese Stadt, die muss ich dir einmal zeigen, die möchte ich mit dir erleben, Tom, das wäre etwas für dich, für uns! Es wird unser Toronto werden, Tom …
Wäre schön, ja … pass auf dich auf … ich, ich … komm bald …
So ein Gestotter. Warum hat er es ihr nicht gesagt? Ich … Selbst jetzt wollte er es nicht aussprechen. Tom hörte dem Regen zu. Kein Geld. Müsst’ ich mehr tun, wieder Akkord arbeiten am Bau, das ginge schon, ja, das machen wir, Elisa …, Toronto, Chicago, die großen Seen … Am Lake Superior, an seinem Südwestufer, ist Bob Dylan groß geworden, dort will ich einmal hin, dieses Land möchte ich sehen, dieses Amerika, wo solche Lieder entstehen können, wo solche Typen herkommen wie der Woody Guthrie oder der Johnny Cash oder der Dylan. Einmal möchte ich nach Duluth, wo Dylan geboren, oder nach Hibbing, wo er aufgewachsen ist, nicht weit von der kanadischen Grenze, frostgeplagt im Winter und staubheiß im Sommer, Midwest, das wilde, freie Land der Seen, Bergwerke und Westernstädte, wie ist dieses Land, in dem er in den Jahren, als ich ein Kindergartenkind war, von Welterfolg zu Welterfolg flog, dieses Land der endlosen Highways hinunter in den Süden, den Mississippi entlang bis New Orleans und hinüber in den Westen, quer durch die Prärien bis zu den Rockies, vielleicht, ja, bis zu den Rocky Mountains würden wir fahren, Elisa, aber Manitoba, was ist mit Manitoba und Saskatchewan, das sind die Worte für mich, diese schönen Indianerworte, diese schönen Träume aus meinen Großelternferien am Ufer des Weißensees … Kein Graben, kein Wald, kein Grillparz und keine Karawanken, nur das Gelb der Weizenfelder an den Ufern des Saskatchewan, das Blau des Himmels und der einsame kleine Indianer mit dem schwarzen Haar und dem gemusterten Stirnband, der Schweif seines Pferdes ist ein gerader Strich bis an den Horizont …
Er schreckte auf. Schlug sich auf den Kopf. Tu endlich was, tu etwas!
Tom setzte sich an den Schreibtisch. Ein Thema finden, endlich ein gutes Thema für die Magisterarbeit! Er war vor kurzem auf einen spanischen Jesuitenmönch an der
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