An diesem einen Punkt der Welt - Roman
würde in drei Tagen aus Toronto zurückkommen.
Er wollte in die Berge.
Nachdenken, sein Leben ändern.
Er atmete schwer. Er rauchte zu viel, trank zu viel, aß und schlief zu wenig. Er hatte zugenommen, das machte das viele Bier.
Der Aufstieg war mühsam.
Aber es war einer jener unvergleichlichen Spätsommertage, in denen die Welt aussieht, als ob sie eben erschaffen worden wäre, zum Gefallen Gottes und der Menschen. In denen alle Last abfällt, leicht und unbemerkt. Nur an diesen Tagen trägt der Himmel keine Fragen. Die Konturen der Berge sind klar wie ein Scherenschnitt, jeder Grat und jeder Abbruch zu greifen. Kare und Geröllhalden, ruhmreiche Kletterwände und namenlose Latschenfelder, Schattenfurchen und Wasserfälle liegen im Rhythmus der Zeit und der Jahreszeiten, des Entstehens und Vergehens, liegen da, stürzen zu Tal, türmen sich auf, fallen ineinander, ziehen bis an den Horizont.
Noch einmal leuchten die Farben auf: das helle Rot der reifen Vogelbeeren, der Hagebutten und der Berberitzen, das dunklere der schon herbstlichen Blätter der Almrosen und der Preiselbeerstauden, deren Früchte auf die Ernte warten. Rote Streupunkte im Unterholz: Inkarnat, Rubin und Amaranth. Das Stahlblau des Eisenhuts, das die Hummeln anlockt, das Lila des buschigen Herbstenzians, das Gelb des Johanniskrautes, das keine Kraft mehr zur Heilung hat. Das Grün der Almwiesen ist so intensiv, als ob es vom Erdinneren her durchglüht wäre. Der Lärchenwald färbt sich in den oberen Regionen bereits gelb, noch zaghaft und wie aus Furcht vor dem Winter.
Kurze Rast, schlagendes Herz bis zum Hals, und weiter.
An den abschüssigen Stellen des Weges ist Stacheldraht gespannt, um die Tiere vor dem Absturz zu sichern. Almhütten und Ställe liegen geschützt in den Mulden, ihre Schindeldächer grau und ausgebleicht, wie verwachsen mit dem Gelände. Noch lagert Jungvieh in den Wiesenkuhlen und auf den Kuppen. Später ziehen die Tiere unruhig über den Berg, auf der Suche nach den letzten Kräutern. Die Hänge liegen im Gegenlicht, regelmäßig geriffelt durch die Grafik der Viehpfade. Vereinzelt stehen noch Germerblüten da, weiße Kirchenkerzen, blätterumrandet. Die alten Kotfladen sind vertrocknet, die frischen weich und mit Schwärmen großer, brauner Fliegen bedeckt. Das Gebimmel der Glocken, die die Rinder um den Hals tragen, ist aufeinander abgestimmt. Die Glocken sind Toms wechselnde Begleiter, ihre Klänge kommen und gehen im Höhersteigen, sie verwehen und empfangen ihn wieder hinter einer Biegung, einer Kuppe.
Vom Wilderersattel aus, der zugleich Wasserscheide ist, liegen die Täler zu beiden Seiten, das eine, aus dem er kam, tief unten, das andere als Hochtal zu seinen Füßen, still und sich genug. In der Ferne immer neue Gebirgszüge, bis hin zu den Gletschern, auf denen schon frischer Schnee lag.
Der Mann vom Lamandergraben war über der Welt.
In ihr und frei wie lange nicht.
Hier war es, dass sie einander versprochen hatten ohne ein Wort.
Dass Elisa in ihn eingesunken war wie für immer.
Sie hatten Rast gemacht in der Sohle des Hochtals. Dort, wo an drei Seiten die Berghänge steil aufsteigen, bedeckt von Lärchenwäldern, Legföhren und grasdurchsetzten Geröllhalden und wo sich gegen Süden hin das Gelände öffnet. In dessen Mitte zieht ein Bach mit starkem Gefälle seine Mäander. Sein Quellgebiet heißt im Volksmund Am Rinnert’n Stoa . Der Name kommt wohl daher, dass der erste Augenschein der Hauptquelle ein auffallender, weiß schimmernder Kalkfelsen ist. Unmittelbar über oder hinter ihm, dem Blick verborgen, entspringt Wasser, das über die vollendete Wölbung des Steins rinnt, allumfassend und ihn beschützend. Die Quelle ist nicht üppig, sie hat nur die Kraft, den Stein milde zu überfließen, dies aber stetig und selbst in trockenen Sommern. Sie versiegt bald nach dem Stein, um erst einige Meter tiefer an vielen Stellen machtvoll hervorzutreten und bald darauf einen ansehnlichen Bach zu bilden.
Tom sah Elisa vor sich, wie sie am Ufer der ausgeschliffenen Wannen ihre Kleider ablegte, sie an einen Wacholderbusch hängte, sich flach in den Bach legte, sich überrinnen ließ und ihm zulachte. Das Wasser löste ihr geflochten Haar und trieb es in welligen Strähnen langsam hin und her, über die Schultern, die Brüste, die spitz wurden in der Kälte. Sommerbraun Bauch und Schenkel, weiß das Dreieck dazwischen. Dann schwarz. Wunsch in weggeblasener Wimper. Streugut der Sonne, bernsteinfarben. Sah
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