An diesem einen Punkt der Welt - Roman

sich selbst, wie er zu ihr ging.
    Es dämmerte bereits, als Tom auf dem Rückweg die Niederungen erreichte. Pastellblau über den Bergspitzen. Spinnennetze zwischen den Ästen, wie eine Zeichnung Leonardos. Flimmerlicht über dem Land, weggerückt, was nahe war. Schatten griffen sich die Wiesen, auf denen in langen Zeilen das Grummet lag.
    Noch einmal stillstehen.
    Sich wundern.
    Und dann hörte er die Grillen. Diesen aufsteigenden und abebbenden Ton des zu Ende gehenden Sommers. So beunruhigend schön, er trug ihn fort, hob ihn woandershin, dorthin vielleicht, wo die Psalmen wohnen. Seit er ein Kind war, liebte der Mann diesen Ton, der ihn führte und verführte, weit weg oder hinein in sich selbst, er würde ihm nachgehen bis ans Ende aller Wege. Er stand da, armselig und glücklich, ungeschützt. Mit dieser immer gleichen Melodie, dachte er, die jetzt leiser war als in den heißen Julimonaten, mit diesem sanften, drängenden auf- und abschwellenden Ton der letzten blauen Bergsommertage möchte ich leben, immerfort.

11
    Der hat doch sein ganzes Geld verspielt.
    Wer?
    Na, der Thomas vom Lamandergraben.
    Hat doch nie Geld gehabt.
    Als Fremdenführer in der Kirche verdient er nicht schlecht.
    Ich hab aber gehört, dass sie ihm kündigen wollen.
    Kein Wunder, wenn sein Freund zu einer Kirchenaustrittsparty einlädt.
    Welcher Freund?
    Na, der Dandy aus München, der mit dem BMW, der jetzt bei ihm wohnt.
    Ah, der.
    Der soll ja mit der Elisa …
    Geh, so ein Schwachsinn.
    Franz vom Riedlbauern saß mit einem Molkereiarbeiter im Stiftskeller. Der Obergscheite vom Graben war immer gut für Gerede. Der ist einfach anders. Der passt nicht her. Aber dennoch mögen ihn die meisten.
    Wie hast du das gemeint mit dem Geldverspielen?
    Ist halt abends oft weg und spielt.
    Fährt er ins Casino?
    Nein, eher Flippern und Dart und Karten und so was, sagte Franz.
    Geh!
    Ist aber wahr. Hat er mir selbst erzählt.
    Kennst ihn leicht so gut?
    Kommt manchmal bei mir am Hof vorbei.
    Hat der so viel Zeit?
    Was weiß ich.
    So ein Tachinierer .
    Oder ein Lebenskünstler.
    Ich würd sagen, was meine Alte sagt: lasch und lebensuntüchtig.
    Was soll das sein?
    Bringt nix weiter und soll oft bis mittags schlafen, sagt der Postler.
    Kann sein.
    Und raucht wie ein Schlot.
    Hast recht, da kannst den Rauch schneiden, wenn er in der Stube sitzt.
    Kann der vom Kirchenführen überhaupt leben?
    Keine Ahnung. Von der Mutter kriegt er scheinbar noch was, manchmal.
    Fauler Hund.
    Ich glaub, er hätt’ schon mehrers probiert.
    Hält doch nix lang bei dem.
    Sie tranken ihr Bier und schoben sich die Essigwurst in den Mund. Franz fuhr mit der Linken immer wieder über die Tischplatte, als ob er Brösel hinunterstreifen müsste. Zitterte heftig. Hatte verschwollene Augen. Tom war am Vortag bei ihm gewesen und hatte ihn gefragt, ob er ihm beim Grummet-Einführen helfen sollte. Franz war allein am Hof, seit seine Eltern tot waren und sein Bruder, der den Besitz übernehmen hätte sollen, nach einem Traktorunfall gelähmt war und in einem Heim lebte. Franz war eigentlich Lastkraftwagenfahrer. Und jetzt ein lustloser Bauer, der Hilfe brauchte. Er hätte besser reden können über Tom.
    Aber es stimmte ja, was sie sagten.
    Tom rauchte zu viel. Vor ein paar Jahren hatte er angeblich zum Holzknecht Virgil gesagt, dass er 70 000 Schilling in Form von Teer in seine Lungenbläschen gepickt hätte. Später fand Parmenides die ergänzende Eintragung aus dieser offensichtlich depressiven und nach außen gut kaschierten Zeit in Toms braunem Heft: „Es fällt mir schwer, mich zu ertragen. Zunehmende Verelendung und Abstumpfung. Ständige Enttäuschung für alle und mich“.
    Und Tom war tatsächlich ein Spieler. Spielte alles, was ihm unterkam, lachend und übermütig, hirnlos und öd, wer war er, der scheinbar so leichtfüßig den Widerspruch lebte, aber warum eigentlich nicht? Rückzug ins Gewöhnliche, Handfeste, Derbe? Spielte stundenlang, kam spät nach Hause, die Tür des hinteren Eingangs knarrte, der Bach redete mit sich selbst. Wenn es Juni war, quakten die Frösche am Teich ihr elementares Liebeswerben in die Nacht, wenn Winter war, hatte der Schnee am Morgen mitunter seine Spuren zugedeckt. Schlich sich dann noch in Elisas Zimmer, wie früher. Schaute ihrem Atem zu. Liebte sie sehr.
    Im Lamanderhaus fanden große, anspruchsvollere Spielabende statt, Männer, Frauen, Kinder. Oder in Summerbach bei Mikram – er hieß eigentlich Michael Jan Kramovskij, aber alle