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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brita Steinwendtner
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wollte.
    Der zweite Untermieter war Reinhold, der aus Wien hierher versetzt worden und ein Bekannter des umtriebigen Mikram war. Reinhold hatte eine schwierige Aufgabe: Er war der neue Koordinator für die Fertigstellung des letzten Teilabschnitts der Autobahn. Er sollte zwischen den Vertretern von Bund, Land und Gemeinden auf der einen und denen der Baufirmen auf der anderen Seite vermitteln. Zusätzlich gab es immer noch Gespräche mit den Protestgruppierungen um dieses oder jenes Detail. Reinhold war äußerlich das Gegenteil von Oliver, wirkte schwerfällig, trug auch immer schwere Schuhe für die Baustellen. Wahrscheinlich war er erfolgreich in seinem Beruf. Verdiente gut, arbeitete viel, war in Ordnung. Kam oft erst um zehn oder elf Uhr nachts aus dem Büro.
    Beim Gipfelkreuz der Teufelsmauer waren nur wenige Menschen versammelt. Sie hatten sich verstreut zwischen Felsen und Bäumen niedergelassen, alle schauten immer wieder auf ihre Armbanduhren, ungeduldig, gespannt.
    Schon änderte sich das Licht, änderten sich die Lufttemperatur und die Luftströmung. Elisa und Tom hatten nichts Besonderes erwartet. Die Zeitungen waren voll mit Bildern, Ankündigungen und wissenschaftlichen Analysen, so dass man der Meinung sein konnte, schon über alles Bescheid zu wissen. Aber jetzt beobachteten sie atemlos das Schauspiel, das Licht wurde bleifarben, sie hatten die Schutzbrillen aufgesetzt, verfolgten die millimeterweise Abdeckung der Sonnenscheibe, sahen, wie sie zum Mond wurde, zum Halbmond, zur Sichel, zur immer kleineren Sichel, sahen hundertfache Sonnensichelchen im Schatten der Büsche aufblitzen,
    über das lange, offene Tal unter ihnen brauste ein Wind heran, der in kürzester Zeit zum Sturm wurde, der über alles hinwegfegte, über Natur und Menschen, als ob er alles vernichten wollte, Sturm des Jüngsten Gerichts, er war nur Vorbote der hereinbrechenden Finsternis, die Gipfelföhren bogen sich, die Menschen krallten sich an Äste und Felsvorsprünge, in der Stadt jenseits des Sees war auf einen Schlag die Straßenbeleuchtung aufgeflammt, auf den Segel- und Ruderbooten flackerten wild die Kerzen in den Laternen, es sah aus wie der entfesselte Tanz von Wasserelfen,
    die Sichel war zum gebogenen Strich geworden, der Gesang der Vögel erstarb, der Lichtbogen erstarb und alles war schwarz, ausgelöscht, schwarze Welt, Weltende, Elisa griff nach Toms Hand, und dann, nur eine Nanosekunde zwischen Finsternis und Feuer: das Erstrahlen des Sonnenkranzes, das Lichtphänomen, heller als tausend Sonnen, die uns vertraut sind. Dieser eine, einzige Augenblick: Tod und Leben. Nie gesehen, nie erlebt, nie wieder.
    Geschlagen zur Finsternis.
    Und dann: Erlösung.
    Keine anderen Worte als die Sprache der Bibel.
    Später erst das Bewusstsein von Pathos, von Verwunderung über solche Reaktion. Aber keine Wissenschaft kann das Ereignis fassen, sie kann es erklären nach dem neuesten Stand der Physik, Quantenphysik und Astronomie, aber sie kann nicht sagen, was es im Einzelnen anrichtet, vernichtet, öffnet oder befreit. Kann nicht leugnen, dass etwas bleibt, wenn alles vorbei ist: der Schrecken der Auslöschung.
    Der Sturm ließ nach. Er wurde zum Wind, das Leben kehrte zurück, Blüten öffneten sich zaghaft, Vögel versuchten den einen oder anderen Laut, das Auge nahm wieder die Konturen der Umgebung wahr, sah wieder Bäume, Felsen, Ufer und Tal, der Lichtkranz ging über in das Erscheinen der Sonne als Mond, in das Wachsen der Sichel, das Wachsen zur Scheibe, in das Wachsen zur Normalität.
    Niemand sprach.
    Dann sagte Oliver: Das war geil.
    Tom mochte Oliver, aber nicht dessen Sprache. Oliver sagte monkey shit und super cool und Hast’se noch alle in der Birne , da wäre Tom Bist blöd schon lieber gewesen. Oliver war sicher ein guter Marktforscher, dachte Tom. Einer der vielen, die gutes Geld machen mit durchschnittlicher Arbeit, die im Trend liegt. Er war selbst einmal kurz Marktforscher gewesen, er wusste, wie es geht, ihm war es zu langweilig.
    Tom war noch benommen von der Himmelserscheinung. Er sah, wie Oliver seinen Arm um Elisas Schulter legte, sie lachten, er hatte offensichtlich etwas Heiteres gesagt. Tom war irritiert. Monkey shit . Oliver hatte Charme, das musste er ihm zugestehen, und eine Leichtigkeit, die Tom fehlte. Dieses easy going . War er ungerecht zu Oliver? War das Eifersucht? Er konnte ja auch sehr nett sein, dieser Oliver, sagte sich Tom, und lässt außerdem nicht wenig Geld im Haus. Wieso nett ? Das

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