Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brita Steinwendtner
Vom Netzwerk:
immer gelebt. Aber wenn große Worte Leben werden, ändern sie ihr Kleid. Elisa. Nach wie vor ging sie an manchen Samstagen mit Oliver in die Disco.
    Schon wieder?
    Komm doch mit, sagte Oliver.
    Hab keine Lust.
    Das sagst du immer.
    Ist mir zu blöd.
    Im Hof wuchs das Unkraut. Das abblätternde blaue Tretboot versank in Brennnesseln. Die Essigbäume hinter dem Haus waren in Wettstreit mit den Holunderstauden getreten, sie bildeten einen Wald und überwucherten das Lusthaus. Die Brombeeren erstickten die Himbeeren. Die Natur im Lamandergraben war gierig.
    Aber das Haus hatte seinen eigenen, stillen Widerstand.
    Ließ seine stummen Zeugen Kunde von früher geben, von arbeitsamem Tun und liebevollen Details. An der Scheune war noch die alte Holzleiter befestigt, quer über das ganze Gebäude, die zum Obstpflücken, Dachausbessern und Rauchfangkehren ihre Dienste anbot. Verschrumpelte Maiskolben hingen an Schnüren unter dem weit auskragenden Dach. Die Luftluken für den Heuboden waren verziert, als Blüte oder Lindenblatt geformt. Dreschflegel lagen in einem Eck, Blätter für ein Mühlrad daneben. Eine Wäscheleine war gespannt. Alte Zeughütten standen im stillen Gespräch mit den Holzschuppen, dem Hühnerstall, dem Kuh- und dem Schweinestall, den hölzernen Aufgängen und Umgängen. Alles führte wohin, alles war klug miteinander verbunden, hatte Funktion und Schönheit und überdauerte den Stillstand des Gebrauchs. Wie lange noch, war nicht zu sagen.
    Was unter ihm geschieht, weiß das Haus nicht.
    Denn noch hat es sein Fundament.
    Und über ihm den Himmel.
    Mehr will es nicht sehen.
    Mehr spürt nur einer, der in der Veranda schläft.
    Im Schlaf hört er die Ratten im Keller.
    Im Schlaf hört er das Gerölle und Geschiebe des Baches unter dem Haus, spürt er das Höhlen und Sichverzweigen des Wassers, spürt es in seinem Körper und in den Träumen der Angst. Der Bach, es ist der Bach, der alles fortträgt, ungerührt und unermüdlich. Stein für Stein, Erde um Erde, es wird eine Höhle für die Salamander, die schwarz-orangefarben glänzenden Feuersalamander.
    In the still oft the night erwacht er in Panik.
    Glaubt, dass ihm alles genommen werde, die Worte, die Liebe, das Leben.
    Kalter Schweiß steht auf seiner Brust, aber der Körper brennt.
    Nesselhemd.

20
    Es ging in das dritte Jahr des neuen Jahrtausends. Vom Arbeitsmarktservice nahm Tom das Angebot an, einen zwölfjährigen Schüler in der ersten Klasse Hauptschule ein Jahr lang als Betreuer und Integrationshilfe zu begleiten. Er hatte Schulden, wie immer. Er brauchte Geld.
    Die neue Stelle war 38 Kilometer entfernt, in Spittelreith, einem freundlichen Tourismusort, der in Wiesen und sanftes Hügelland eingebettet war, bevor die Passstraße über das Gebirge führte. Tom fühlte sich wohl in diesem Städtchen, in dem er sich nicht so beobachtet fühlte wie im Dorf, nichts thronte über den Bürgern, kein Kloster, keine Patres, kein Gold und keine Maria der Himmelfahrt. Hier waren die Plätze offen für Cafés, Geschäfte und plätschernde Brunnen. Als er fünf war, hatte Tom eine Woche mit seiner Mutter hier verbracht, um seinen Keuchhusten auszuheilen. Er war neben ihr im Himmelbett des Zimmers Nr. 7 im Gasthof zur Post gelegen und spürte noch heute ihre Wärme und die Weichheit ihres Körpers.
    Johannes, der Schüler, den Tom betreuen sollte, war mit eineinhalb Jahren an Gehirnhautentzündung erkrankt und galt seither als autistisch. Eltern und Geschwister schämten sich. Sahen dieses Schicksal als unverdiente Strafe an. Wofür, fragte sich Tom, der auch die Ablehnung von Pfarrer und Lehrern spürte. Der Bub war eine Belastung für alle. Er redete und philosophierte ununterbrochen, in zwanghafter Denkbemühung.
    Der Mensch gehört zur Natur und die Natur hat einen Bauplan
    Der Bauplan ist Fleisch
    I bin oam, i bin Fleisch
    Johannes war ein unruhiger Schüler. Er äußerte Zuneigung wie Abneigung in drastischer Direktheit, was den Unterricht mitunter wesentlich störte. Tom saß in der Bank neben ihm. Wenn Johannes zu aggressiv wurde, musste er ihn bändigen, keine leichte Aufgabe. In den Freistunden, die dem Schüler zugestanden wurden, durften sie die Bibliothek benützen. Der Bub blätterte in den Bildbänden und Büchern, monologisierte vor sich hin, predigte und gab Erstaunliches von sich. Tom war hingerissen von dieser Mischung aus Prägnanz, unfreiwilliger Komik und Tiefsinn. Eines Tages begann er mitzuschreiben, seitenweise in sein braunes

Weitere Kostenlose Bücher